Grüße aus St. Petersburg

  • Diese Geschichte ist der achte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:


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    This is sempiternal.
    Will we ever see the end?
    This is sempiternal.
    Over and over, again and again.


    Bring Me The Horizon - Shadow Moses



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    Eelis Mäkelä saß auf einem Stuhl und lauschte seinem eigenen hektischen Atem. Sie hatten ihm die Hände hinter der Lehne zusammengebunden, die Unterschenkel an den Stuhlbeinen fixiert. Nach unzähligen Schlägen ins Gesicht dröhnte ihm der Schädel. Blut lief die Stirn herunter, verklebte seine Augenlider.


    Der Stuhl stand auf einem Stück Abdeckfolie, welche übersät war mit Flecken von seinem Blut. Er musste sich etwas einfallen lassen, wenn er nicht sterben wollte! Er sah sich suchend um, fand jedoch nichts, was ihm aus dieser misslichen Lage helfen konnte. „Sag uns Mäkelä, was war an den Regeln nicht zu verstehen?“, fragte der kleinere der beiden Männer, die vor ihm standen, mit russischem Akzent. „Wirklich, ihr müsst mir glauben. Ich weiß nicht, was ihr wollt!“, beteuerte er. Die beiden Russen lachten. „Mäkelä. Siehst du nicht, dass du dir mit diesem Spielchen keinen Gefallen tust?“ „Ich weiß nicht, wovon ihr redet“, wiederholte er erneut.Diesmal schaltete sich der Größere ein. Mäkelä wusste, dass er Dimitry hieß. „Ist es nicht zu dir durchgedrungen, dass man nichts hinter dem Rücken vom Boss treibt?“ „Ich treibe gar nichts hinter seinem Rücken!“„Nicht? Bist du dir da ganz sicher?“, fragte Dimitry. Er nickte. „Ich erzähle keine Lügen. Bitte, ich weiß nichts!“ Der kleinere Russe beugte sich zu ihm runter und umgriff seinen Kiefer mit seiner Hand. „Sag mir, machst du heimlich gemeinsame Sache mit den Bullen?“ Mäkelä versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie viel Angst er hatte. Verdammt, er würde sich vor Angst am liebsten in die Hose machen! Er würde diese Lagerhalle nicht mehr lebend verlassen, dafür sprach die Plane auf dem grauen Betonboden. Er blieb stumm und die Hand umgriff seinen Kiefer fester. „Mäkelä! Sag schon … mit wem steckst du unter einer Decke? Wer erhält von dir Informationen?“ Er lachte aufgesetzt. „Kommt schon, die Bullen? Was sollte ich mit denen wollen?“ Nun trat auch Dimitry näher an ihn heran. „Du hast damals auch gesagt, dass du keine Geschäfte hinter dem Rücken der Esten machst und nun, sieh dich an Mäkelä, du bist schnell angekrochen gekommen und hast den Boss um einen Job angefleht.“ „Das ist doch etwas anderes“, versuchte er sich herauszudrehen. „Achja?“ Dimirtys Gesicht verzog sich zu einer unheilvollen Fratze und er zog seine Pistole hervor. Mäkeläs Augen weiteten sich vor Schreck. „Ich …“, begann Mäkelä, wurde jedoch von einem Schuss unterbrochen. Fast mechanisch glitt seine Hand an sein Knie und spürte, wie warmes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sich eine Schmerzwelle durch den gesamten Körper ausbreitete. Ein Schrei entfloh seinem Mund. Die beiden Russen lachten amüsiert, erfreuten sich an seinem Leid. „Der Name von dem Bullen, Mäkelä“, sagte Dimitry und lächelte dabei breit über das gesamte Gesicht. „Er … er hat mir keinen Namen genannt … Bitte, es ist die Wahrheit!“, flehte er, während er die Hand immer noch fest auf das Knie drückte. „Das ist nicht die Antwort, die wir hören wollten.“ Dimitrys Arm hob sich erneut. Mäkeläs blauen, angsterfüllten Augen sahen auf den Mann vor ihm. „Bitte … ich …“, stotterte er, doch da fiel bereits der nächste Schuss und zertrümmerte auch seine zweite Kniescheibe.„Perkele! Hört auf! Hört auf!“, schrie Mäkelä, während erste Tränen seine Augen verließen. Er konnte nicht mehr. Die Schmerzen waren nicht mehr auszuhalten. „Bitte! Dimitry, hör auf!“


    Eine Hand fuhr in seine Haare, zog daran und zwang ihn dazu nach oben zu blicken. Dimitry lächelte ihn an. „Der Name des Bullen … komm schon Mäkelä. Sag ihn uns! Wer von der Drogenfahndung will uns diesmal an den Kragen? Wer ist noch motiviert genug?“ „Mo … Mordkommission“, presste er leise hervor. Dimitry beugte sich herunter. „Die Mordkommission also? Das ist ja interessant. Was wollen die? Was hast du ihnen für Informationen gegeben?“ „Sie … sie wollten nur ein paar Infos, nichts großes und ich … ich konnte ihn ja auch nicht wirklich was liefern. Bitte Dimitry … bitte!“ Die beiden Russen lachen wieder. „Du bist erbärmlich, Mäkelä!“ Dimitry beugte sich zu ihm hinunter und drückte seine Hand fest auf sein Knie. Sofort durchfluteten neue Schmerzen seinen Körper. Das Wasser stand ihm wieder in den Augen und er flehte leise darum, dass sie ihn verschonen sollten. „Der Name des Bullen.“ „Kram … Kramsu“, stotterte er hervor. Dimitry lächelte zufrieden. „Geht doch, mein Freund!“


    Dimitry hob seinen Arm und legte die Waffe an. Etwa fünf Zentimeter vor seinem Herz ließ er die Pistole ruhen. Schweiß lief seine Stirn herab. „Bitte … Dimitry … i-ich mache das wieder gut … bitte!“, brachte er leise mit zittriger Stimme heraus. „Es tut mir leid, Mäkelä, wir haben nun einmal Regeln und ein Regelbruch verlangt seine Konsequenzen!“


    Angst, nackte Angst zeichnete den Blick von Mäkelä. Er zitterte am ganzen Körper. Kurze, heftige Schnaufer entkamen seinem Mund. Er schloss seine Augen. Ein leises Klicken war zu hören, der Hahn wurde gespannt. Dimitry drückte ab. Ein lauter Knall war das letzte Geräusch, was Eelis Mäkelä wahrnahm, ehe er leblos auf dem Stuhl zusammensank.

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  • Als Ben Jäger aus der Tankstelle kam, wurde er bereits erwartet. Sein neuer Kollege – oder zumindest sein Kollege auf Zeit – stand an den grauen Mercedes gelehnt. In der einen Hand das Handy, in der anderen einen Kaffeebecher. Er trug abgetragene Jeans, Converse-Turnschuhe und ein graues T-Shirt mit der Aufschrift „Athletic Department“. Die schwarzen Haare standen wirr zu allen Seiten, als wäre er in einen schweren Sturm geraten. Der Kollege war ihm für ein Jahr zugeteilt, knapp vier Monate hatten sie bereits hinter sich gebracht. Ein internationales Austauschprogramm. Man sollte voneinander lernen, Polizeipraktiken austauschen und die Zusammenarbeit mit ausländischen Kollegen stärken.


    „Der Kaffee schmeckt scheußlich“, empfing ihn der Kollege, als er am Auto ankam und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Das ist doch Folter! Wir Finnen brauchen unseren Kaffee!“ Ben lachte und schmiss ihm einen Schokoriegel zu, den sein Gegenüber mit Müh' und Not fing, ohne dabei seinen Kaffee zu verschütten. „Das wird dich hoffentlich darüber hinwegtrösten, Veikko!“ „Es wird dabei helfen“, vermeldete der Schwarzhaarige und grinste dabei spitzbübisch. Wenn Ben eins gelernt hatte in den letzten Monaten, war es, dass Veikko prima mit Schokolade zu bestechen war. Seine Schublade im Schreibtisch war vollgestopft mit dem Kram in allen möglichen Varianten.


    Ben lehnte sich an das Auto und nahm einen Schluck aus seinem Pappbecher. „Der Cappuccino schmeckt nicht viel besser“, ließ er verlauten und zog ein langes Gesicht. Veikko legte seine Hand mitfühlend auf Bens Schulter. „Was will man erwarten, ich sagte ja, lass uns noch ein paar Kilometer weiterfahren zu dieser kleinen Bäckerei auf dem Autohof. Aber der Herr dachte ja er verhungert, wenn er nicht um Punkt 8:00 Uhr sein Schokocroissant in der Hand hat.“ Der Braunhaarige sah entrüstet zur Seite. „Entschuldige mal, du hattest es heute Morgen so eilig zur Arbeit zu kommen, dass ich keine Zeit mehr hatte vorher etwas zu essen!“ Veikko verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Sei froh, dass ich nun bei dir wohne, so kommst du der Pünktlichkeit zumindest etwas näher!“ Der finnische Kommissar lachte. Ein lautes, donnerndes, fröhliches Lachen, welches Ben in den letzten Monaten über so manche schlechte Stunde geholfen hatte. Manchmal glaubte er, dass man Veikko niemals die gute Laune vermiesen konnte. „Wobei, eigentlich nehme ich deine schlechten Angewohnheiten an. Scheiße ich war in Helsinki nie zu spät im Präsidium!“, fuhr sein Nebenmann fort. Ben sah skeptisch zur Seite. „Ihr habt keinen Schichtdienst“, konterte er, „bei diesen geregelten Arbeitszeiten, da würde ich es sicherlich auch hinbekommen, dann ist es kein großes Kunststück!“ Veikko zog die rechte Augenbraue hoch. „Natürlich Ben, natürlich … du würdest sogar zu spät kommen, wenn du dir drei Wecker stellst“, sprach er mit sarkastischem Unterton.


    Ben zerrte Veikko den Schokoriegel aus der Hand. „Ich glaube, du hast den doch nicht verdient!“ Er riss das Papier von dem Schokoriegel und hob ihn Richtung Mund. „Ey! Untersteh dich!“ Er sah aus dem Augenwinkel, wie Veikko nach dem Riegel greifen wollte und hob ihn in die Luft, so dass dieser nicht mehr so leicht herankam. Der Schwarzhaarige sprang hoch, umgriff Bens Handgelenk und schnappte sich wieder den Schokoriegel. „Ich bin nicht so klein, wie Semir, das solltest du dir merken!“ Triumphierend biss der Finne in den Schokoriegel und schmatzte herausfordernd. Dann jedoch hielt er inne. „Fuck“, murmelte er leise und Ben folgte seinem Blick.


    Etwa 300 Meter von ihnen konnte er zwischen zwei parkenden LKW einen blonden Mann seitwärts am Boden liegend erkennen. Unter ihm quoll Blut hervor, aber er schien nicht schwer verletzt zu sein. Der Kopf des Mannes war nach oben gerichtet. Ben sah in die Blickrichtung des Opfers, doch alles was er aus seinem Blickwinkel erkennen konnte, war ein Arm, der restliche Körper war durch einen der LKW verdeckt. Eine Pistole mit Schalldämpfer war auf das Opfer gerichtet. Dann ging alles ganz schnell: Ehe die beiden Kommissare das Gesehene verarbeiten konnten, gab er einen Schuss auf das Herz des Mannes ab, kurz danach den Zweiten auf dessen Kopf. Ein schwarzer Kleintransporter fuhr mit quietschenden Reifen an, der Schütze stieg ein und raste mit dröhnendem Motor an ihnen vorbei auf die Autobahn.


    Ben war es, der als erster seine Fassung wiederfand. „Verdammte Scheiße!“, fluchte er laut, während er zur Fahrerseite seines Mercedes sprintete, einstieg und den Motor anließ. Nur Sekunden später hatte sich Veikko neben ihm auf den Beifahrersitz geworfen und entledigte sich dem Schokoriegel indem er ihn sich in den Mund stopfte. „Schnapp ihn dir Tiger“, ließ der Finne mit vollen Mund verlauten und Ben drückte das Gaspedal durch.


    Mit einer flinken Handbewegung schaltete Ben das Blaulicht an und brachte den Wagen auf Touren. Schließlich jagte der Mercedes mit knapp 200 Sachen auf der Autobahn dem schwarzen Wagen hinterher. Der Abstand verkleinerte sich immer mehr. „Na wartet, wir bekommen euch schon noch!“, zischte er und drückte das Gaspedal weiter durch und setzte sich mit seinem Dienstfahrzeug neben den Kastenwagen. Doch dann zuckte sein rechter Fuß. Seine Augen weiteten sich. „Scheiße!“ Die Schiebetür des Wagens öffnete sich und nur unmittelbar darauf hörte er das Knattern automatischer Waffen, als die Verfolgten das Feuer eröffneten. Gerade noch rechtzeitig, rief Ben Veikko zu, sich zu ducken. Er drückte seinen jüngeren Kollegen herunter, ehe er selbst in Deckung ging, als die ersten Schüsse die Seitenfenster zertrümmerten und Glassplitter auf ihn einprasselten. Als der Kugelhagel nachgelassen hatte, fuhr er wieder hoch und zog Veikko mit sich. „Ihr miesen, kleinen Schweinehunde“, knurrte er und trat erneut aufs Gas. „Glaubt ihr wirklich, ihr könnt euch alles erlauben!?“ Vor ihm tauchte ein unbeteiligtes Fahrzeug auf. Brutal riss er das Lenkrad herum und überholte den kleinen Passat auf dem Standstreifen, um wenig später erneut dem Kugelhagel auszuweichen. „Würdest du denen vielleicht zeigen, dass wir das nicht mit uns machen lassen?“, murrte er in Richtung seines Beifahrers. „Was? Ich kann doch nicht auf einer befahrenen Autobahn … Scheiße, Nein!“, schrie Veikko hektisch zurück. „Du willst also lieber sterben? Ich vertraue deiner Schießleistung, nun mach … ich möchte nicht als Küchensieb enden, wenn die mit uns fertig sind!“ Er hörte ein leises Brummen von der Seite, dann griff der finnische Kollege mit zittriger Hand nach seiner Waffe. Eine Geste, die Ben nicht unentdeckt blieb. Nachdem Veikko vor etlichen Jahren einmal einen Mann bei einem Zugriff erschossen hatte, benutzte er nur ungern seine Pistole. „Du packst das Veikko“, sprach er seinem Kollegen gut zu. „Jaja! Ich bin doch schon dabei!“ Sein Beifahrer atmete einige Male tief durch, ehe er das Seitenfenster öffnete. Ben sah, wie Veikko kurz die Augen schloss, ehe er sie wieder öffnete, anvisierte und den Abzug durchdrückte. Gleich beim ersten Versuch traf er den Hinterreifen des Lastwagens, der daraufhin ins Schleudern geriet. Doch auch die Gegner hatten Erfolg. Drei Schüsse landen auf dem Kühler seines Mercedes und unter der Motorhaube stieg eine weiße Dampfwolke auf. Mit kreischenden Bremsen brachte er den Wagen zum Stillstand und die beiden Kommissare sprangen ins Freie und machten sich schussbereit. „Sie haben keine Chance, geben Sie auf!“, schrie Ben in Richtung des Fahrzeuges. Der Mann rief ihm etwas auf einer anderen Sprache zu, die Ben nicht zuordnen konnte, kurz darauf fielen erneut Schüsse, fast gleichzeitig ertönte ein ohrenbetäubender Knall und es breitete sich hinter ihnen eine ungemütliche Hitze aus. Erschrocken wirbelte Ben herum. Ein Öltransporter stand etwa 300 Meter von ihnen quer und ausgebrannt auf der Fahrbahn. Ein lautes Lachen hallte über die Autobahn. „Du solltest laufen, Polizist!“, gab ihm eine tiefe, kratzige Stimme zu verstehen. Ein Satz den Ben nur unmittelbar danach verstand. Ein Laster versuchte mit quietschenden Reifen vor den Öltanker zum Stehen zu kommen, ein PKW dahinter wollte ausweichen, fuhr dabei aber auf ein weiteres, stehendes Fahrzeug auf und wurde wie durch eine Abschussrampe in die Luft befördert, flog direkt auf ihn und Veikko zu.


    Sein Herz begann, in seiner Brust zu hämmern. Adrenalin pumpte durch seine Adern. „Weg!“, schrie er in Richtung Veikko und konnte nur hoffen, dass sein Kollege schnell genug reagierte. Dadurch, dass sein Mercedes sie trennte, hatte er keine Chance ihn zu erreichen. Er sprang nach links über die Mittelleitplanke und drückte sich daran, damit ihn der Gegenverkehr nicht erwischte. Er hörte ein lautes Krachen, unmittelbar danach erneut Schüsse und dann war alles gespenstisch still.

  • Am Morgen war es noch neblig und kalt gewesen, doch langsam gewann die Sonne die Oberhand und es wurde wärmer. Semir stand auf einem Balkon und nahm einen tiefen Atemzug, während er auf die Stadt vor sich blickte. Helsinki schien noch zu schlafen und der Verkehr auf der Straße war noch nicht besonders dicht. Es war vielleicht nicht der perfekte Urlaubsort für diese Jahreszeit, aber Antti hatte ihn eingeladen und er hatte diese Einladung gerne angenommen. Immerhin verband sie nun seit Jahren eine doch enge Freundschaft, geschuldet vor allem auch dadurch, dass Anttis Kollege Mikael Häkkinen, ein Hauptkommissar mit zweifelhafter Vergangenheit, schon seit Kindheitstagen ein Freund von Ben war und sie so über die beiden jüngeren Kollegen aufeinandertrafen. Er hatte mit Andrea abgesprochen, dass er erst eine Woche alleine in Helsinki bleiben würde, ehe sie mit den Kindern nachkam. Auch weil er sich vergewissern wollte, dass es Mikael gut ging. Es waren knapp sieben Monate vergangen, da war der junge Kollege psychisch vollkommen zusammengebrochen, nachdem Ben vor seinen Augen fast gestorben war. Die Vergangenheit und die Schuld hatten ihm so sehr zugesetzt, dass er sich in seiner Panik sogar hatte umbringen wollen. Von Antti wusste er, dass Mikael noch mindestens sieben Monate vom Polizeidienst beurlaubt war, doch gleichzeitig hatte Antti gemutmaßt, dass Mikael auch danach nicht zurückkehren würde.


    Er vernahm Schritte hinter sich und wenig später stand Antti neben ihm auf dem Balkon. „Was für ein Tagesbeginn. So was muss man genießen. Ich habe Mikael zum Frühstück eingeladen. Eva ist für ein paar Tage in Rovaniemi bei ihrer Oma und ich will nicht …“ „… Du möchtest nicht, dass er ins Grübeln über seine Vergangenheit verfällt, wo er alleine ist“, vervollständigte Semir den Satz. Antti lehnte sich neben ihm an das Geländer. „Ich weiß, dass es albern ist.“ „Das ist verständlich Antti. Mikael ist ein guter Freund, du machst dir halt Gedanken.“


    Antti löste sich wieder vom Geländer des Balkons. „Ich werde gleich los gehen, Brötchen und etwas Aufschnitt holen. Ich habe überhaupt nichts hier.“ Semir nickte und hörte, wie Antti sich wieder von ihm entfernte. „Wenn er klingelt und ich noch nicht da bin, mache ihm ruhig auf.“ Ehe Semir antworten konnte, war die Tür der Wohnung ins Schloss gefallen und er war wieder alleine. Er sah wieder auf die Straßen vor sich und versank wieder in Gedanken, ehe er nur wenige Minuten später durch das Klingeln der Tür eben aus diesen gerissen wurde.


    Als Semir die Tür öffnete, blickte er geradewegs in Mikaels Gesicht, das mit einem leichten Lächeln geschmückt war. Neben ihm saß ein Hund. Ein Australian Shepherd so weit er es beurteilen konnte. Ben hatte ihm schon erzählt, dass Mikael und das Tier über die letzten Monate eine enge Bindung entwickelt hatten. Er zögerte einen Augenblick, doch dann zog er den jungen Mann vor sich in seine Arme. Erst nach fast einer Minute ließ er locker und begutachtete Mikael von oben bis unten. Seine blauen Augen stachen aus seinem leicht gebräunten Gesicht hervor. Die Frisur hatte sich nicht verändert und auf seinem Kopf herrschte weiterhin kontrolliertes Chaos, wie Mikael es gerne bezeichnete. Die Haare waren zwar etwas kürzer und gingen nur noch knapp über die Ohren, waren durchgestuft und auf unordentlich gestylt. Auch in seinem Kleidungsstil war er sich treugeblieben.


    Jeans mit einem Kapuzenpullover, dazu Turnschuhe. Mikael lächelte ihn unsicher an, als er wieder im Gesicht ankam. „Und? Sicher, dass ich es bin, oder bist du einer Fälschung aufgesessen?“ Er gab Mikael einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. „Werd mir ja nicht frech!“ Der Jüngere trat in die Wohnung und sah sich um. „Ist Antti unterwegs?“ „Ja, er holt Brötchen und etwas Aufschnitt.“ Mikael nickte und setzte sich auf das Sofa, während sich der Hund vor den Füßen seines Herrchens niederließ. Semir folgte ihm und ließ sich seinerseits auf den Sessel fallen. „Wie geht es dir?“ „Gut … ich denke gut.“ Sie verfielen in ein Schweigen. Mikael war in den Monaten also nicht zu einer Plaudertasche geworden und man musste ihm weiterhin jede Einzelheit aus der Nase ziehen. Eine Tatsache, die Semir zuweilen zum Schmunzeln brachte. Wie konnte ein Mann, der in der Helsinkier Polizei für seine außerordentlichen Verhöre bekannt war, so schweigsam sein? „Wie war Alaska?“ „Kalt und anstrengend, aber es hat mir gut getan. Ich fühle mich wieder lebendiger seit ich zurück bin … es geht mir wirklich gut.“ Der Deutschtürke nickte. „Weißt du schon ob du…“ „Ob ich als Polizist weiterarbeite? Nein, noch nicht. Im Augenblick tendiere ich aber dazu, alles an den Nagel zu hängen.“ Mikaels Blick wanderte aus dem Fenster. „Es fühlt sich falsch an … ich war vor zwei Wochen bei Antti im Präsidium und ganz ehrlich, ich habe mich fehl am Platz gefühlt. Wie ein Fremder an seinem eigenen Arbeitsplatz.“ Es herrschte wieder Schweigen, ehe Mikael die Stimme erneut erhob. „Wie macht sich Veikko?“ Semir begann zu lachen. „Ich beginne zu verstehen, was Antti meint. Er kann sehr anstrengend sein, wenn er nachdenkt … er macht es so laut, dass man selbst keinen normalen Gedanken mehr fassen kann.“ Der Jüngere nickte. „Ich weiß übrigens, dass du eigentlich der Kollege sein solltest, der dieses Austauschprojekt begleitet“, informierte Semir Mikael nun. Die Chefin hatte es ihm erklärt, als sie ihnen von diesem internationalen Projekt erzählt hatte. Mikael schien der perfekte Kandidat gewesen zu sein, immerhin hatte er nicht nur mit der Autobahnpolizei international zusammengearbeitet, sondern auch mit anderen Dienststellen in Deutschland. „Es wäre ohnehin nicht gutgegangen … ich meine Ben und ich gemeinsam an einem Fall … wir wären sicherlich aneinander geraten.“ Semir nickte und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass, obwohl sie bereits so viele Fälle gemeinsam mit der finnischen Mordkommission gelöst hatte, Mikael und Ben nur wenige Male aktiv gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten. „Veikko ist die bessere Wahl, Semir, da bin ich mir sicher.“ Mikael machte eine Pause. „Außerdem ist es für ihn weitaus unkomplizierter, du weißt schon, wegen Familie und so.“ Semir lehnte sich zurück. „Ja … die Tatsache wird uns wohl auch noch Probleme machen, wenn einer von unseren Beamten nach Finnland geht.“ Er vernahm ein Lächeln von Mikaels Seite. „Nun, ich bin mir sicher, es gibt einen perfekten Kandidaten.“ „Weißt du wieder mehr, als der Rest der Welt? Was geht in deinem Köpfchen vor? Du redest doch hier nicht von Ben … da bin ich mir ganz sicher.“ Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Ich sage nur, dass ich jemanden bei der Autobahnpolizei wüsste, der dieses Angebot gerne in Anspruch nehmen wird.“ „Natürlich … sag schon, wer hat es so nötig von unserer Dienststelle wegzukommen?“ Mikael schüttelte mit dem Kopf. „Ich werde mich da nicht einmischen. Du wirst es schon früh genug herausfinden. Mich hat es nur ein paar Minuten gekostet.“


    „Du bist zu früh … du wolltest doch erst in 20 Minuten hier sein.“ Die beiden Männer sahen zur Tür und erblickten Antti, der mit einer Papiertüte beladen hereinkam. „Als ich vom Joggen kam, hatte ich nicht wirklich etwas zu tun“, antwortete ihm Mikael und stand nun vom Sofa auf. Er ging auf Antti zu und schob die Tüte mit seinen Fingern etwas auf, um einen Blick hereinzuwerfen. „Du hast sogar an meinen Lieblingsquark gedacht“, stellte er zufrieden fest. „Dann werde ich schon mal den Tisch decken gehen.“


    Semir verfolgte, wie Mikael in die Küche ging. Der Hund, der bis vor kurzem noch still vor dem Sofa gelegen hatte, sprang nun auf und folgte seinem Herrchen. „Willst du Tee, Semir?“, hörte er nach einer Weile aus der Küche. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn so hinbekomme, wie du ihn willst, aber wenn du welchen willst, dann …“ „Nein, Kaffee reicht“, antwortete er schnell, „mach dir wegen mir keine Umstände.“

  • „Bist du okay!?“,hörte Ben eine bekannte Stimme sagen. Er richtete sich auf, sprang über die Mittelleitplanke zurück auf die andere Fahrbahn und nickte auf die Frage seines Kollegen. „Ja, passt sch…“ Er unterbrach seine Antwort abrupt und seine Augen weiteten sich, als er Blut an Veikkos Arm sah. „Scheiße haben die dich getroffen?“ Ben wollte gerade nach dem Arm greifen, da zog Veikko ihn bereits weg. „Nein … ich hab ihn mir aufgeschrammt, als ich auf dem Asphalt gefallen bin. Es ist nichts wildes, brennt nur höllisch. Es ist nicht so, als hätte ich mir nicht schon zig Mal eine solche Verletzung beim Skateboarden zugezogen.“ Der Braunhaarige nickte langsam und wendete seinen Blick nun wieder in die Richtung, wo vor wenigen Sekunden noch diese Typen gestanden hatten. „Sie sind geflüchtet, mit einem Auto einer jungen Frau … sie ist aber Gott sei Dank unverletzt“, berichtete Veikko ihm.


    „Der Tag fängt wirklich toll an“, fügte der Finne nach einer Weile hinzu und betrachtete das Chaos um sie herum. „Ich freu mich jetzt schon auf den Bericht.“ Ben gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Keine Angst, daran wirst du dich auch noch gewöhnen.“ „Na hoffentlich nicht …“ Der Ältere lächelte und lehnte sich nun an seinen kaputten Mercedes. „Lass uns warten, bis die Kollegen eintreffen und dann nachsehen, was unsere Freunde an dieser Raststätte hinterlassen haben.“ Veikko nickte, während er sich neben Ben an das Auto fallen ließ. „Es waren übrigens Russen … zumindest haben sie russisch gesprochen, daher gehe ich jetzt mal davon aus.“ Der deutsche Kommissar sah interessiert zur Seite. „Du sprichst russisch?“ „Ja ein wenig, aber das ist in Finnland jetzt nichts besonderes. Viele, die im Osten des Landes aufgewachsen sind, hatten das in der Schule.“ Veikko tastete mit den Fingern über seine Wunde und Ben hörte, wie er leise auf Finnisch fluchte. „Du solltest es verbinden lassen“, merkte Ben nach einer Weile an. „Jaja … so schlimm ist es nun auch nicht. Du bist schon fast wie Semir. Überfürsorglich und so“, gab der Schwarzhaarige sofort Widerworte.


    Ben schüttelte den Kopf und lehnte sich dabei in seinen Dienstwagen, um via Funk Kollegen Details über das Geschehen in den letzten Minuten durchzugeben und einige Einsatzfahrzeuge zu verteilen. Nur wenige Minuten später hatten sich Krankenwagen, Feuerwehr und einige Polizeiwagen an der Unfallstelle eingefunden. Während Veikko am Wagen blieb, war Ben auf Bonrath zugegangen und wies ihn ein, damit sie sich so schnell wie möglich um den Mord kümmern konnten. Aus dem Augenwinkel beobachtete Ben, wie sich Jenny inzwischen der Verletzung von Veikko angenommen hatte und einen Verband um den Oberarm legte.


    „Die Chefin wird nicht gerade begeistert sein von dem Chaos was ihr angerichtet habt.“ Bens Augen lösten sich von Veikko und er sah wieder auf seinen uniformierten Kollegen. „Uns trifft diesmal absolut keine Schuld. Die haben wie Wilde um sich geschossen!“, verteidigte er sich sofort und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. „Natürlich Ben … nur kommt mir genau dieser eine Satz sehr bekannt vor.“ „Wie dem auch sei, Bonrath, wir müssen wirklich dringend zurück zu dieser Raststätte und uns ansehen, was die für ein Präsent hinterlassen haben. Während du dich mit Jenny hier um alles kümmerst, bekommen wir sicherlich euren Dienstwagen zur Verfüg…“ „Damit ihr den auch noch zu Schrott fahrt?“, setzte sein Kollege ein und lächelte dabei triumphierend. „Gut, wie du meinst … ich lasse Veikko fahren, seine Statistik ist doch sauber, oder?“ Ben konnte sehen, wie Dieter sein Argument abwog. „Gut, aber ich hoffe, dass ich den Wagen auch wirklich im Ganzen zurückbekomme.“ Der Jungkommissar hielt die Hand offen und wartete darauf, dass der Autoschlüssel hineinfiel. „Natürlich, Bonrath, natürlich!“



    *


    Als die beiden Hauptkommissare am Tatort angekommen waren, drängten sich bereits Schaulustige am Absperrband und Ben kam nicht umher herauszuhören, wie man wild darüber spekulierte, was genau hier vorgefallen war. Die Spurensicherung, Fotografen und die Gerichtsmedizin waren schon bei der Arbeit, als sie unter der Absperrung hindurch in Richtung der Leiche liefen. Es herrschte betretene Stille, als sie den Leichnam erreichten.


    Veikko kniete sich zu der Leiche runter und Ben beobachtete, wie der finnische Kommissar die Einschusslöcher betrachtete. Er sah zu Ben hoch. Sein Gesicht war ernst und Ben wusste, dass er etwas gefunden haben musste, was den Tag nicht besser werden ließ. „Russenmafia“, war schließlich das einzige Wort, das der Kollege aus Finnland verlauten ließ. „Wie?“, fragte er irritiert nach. „Ein Schuss in den Kopf, zwei in die Knie, einer ins Herz … dazu die Tatsache, dass sie Russisch gesprochen haben. Alles spricht dafür.“ Ben ging nun neben Veikko in die Hocke und begutachtete ebenfalls das Opfer. „Und das kann kein Zufall sein?“, murmelte er leise. „Es wäre ein ziemlich großer. Genau in dieser Weise kennzeichnet eine Größe der Russenmafia seine Opfer. Glaub mir, ich kenne seine Handschrift, ich habe sie ja oft genug gesehen an Tatorten.“ Veikko erhob sich. „Aufklärung wird uns die Kugel bringen. Wenn sie in einen bestimmten Wodka getaucht ist, ist es ganz sicher.“ Ben nickte und richtete sich ebenfalls auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich nehme an, dieser Typ ist nicht gerade als Gönner bei der finnischen Polizei bekannt.“ „Er sitzt in St. Petersburg, lässt sich selten vor Ort blicken, hat aber überall seine Handlanger.“ Der Schwarzhaarige sah weiterhin auf den Leichnam vor ihnen. „Was suchen die in Köln? Was gibt es hier so Interessantes?“ Ben zuckte mit den Schultern. „Wenn es die Russenmafia ist, werden wir das herausfinden, aber bisher können wir wohl nicht viel machen, als abzuwarten und Zeugen zu befragen.“ Der Finne nickte. „Ich werde Hartmut meine Infos zu diesem Wodka geben und ihn persönlich mit der Analyse beauftragen. Ich glaube er lässt mich nicht wieder selbst in seinem Labor arbeiten.“ Ben gab ihm einen freundschaftlichen Klaps. Er war sich bewusst darüber, dass Veikko gerne selbst diesem Hinweis nachgehen würde. Der finnische Kollege kam aus der Kriminaltechnik, hätte sogar vor einigen Jahren fast die Leitung der KTU im Helsinkier Präsidium übernommen. Allerdings hatte Veikko bei seiner letzten Recherche die KTU in ein Schlachtfeld verwandelt und war seit diesem Augenblick nicht gerade ein gerngesehener Gast, wenn es um eigene Untersuchungen ging. Veikko schien seine Geste zu verstehen und lachte. „Naja, dann lass uns halt die langweilige Arbeit übernehmen, während Hartmut Spaß mit Zahlen und chemischen Zusammensetzungen hat!“ „Nun, um ehrlich zu sein … in diesem Fall wäre mir der Papierkram sogar lieber“, konterte Ben und lachte nun ebenfalls.


    Wenig später fanden sich die beiden Hauptkommissare hinter ihren Schreibtischen wieder. Sie studierten und sortieren die Zeugenaussagen vom Tatort. Die Identität des Mannes war weiter unklar. Er hatte keine Papiere bei sich gehabt. Veikko vermutete, dass es wegen der scharfen Gesichtszüge jemand aus dem Osten sein könnte, festlegen wollte er sich allerdings nicht und so stocherten sie auch in diesem Bezug im Leeren.„Ich hol uns etwas Kaffee.“ Ohne auf Bens Antwort zu warten, war Veikko bereits aus dem Büro verschwunden und machte sich durch das Großraumbüro auf in Richtung Aufenthaltsraum. Er lächelte als er durch die Tür trat und er in ein Paar grüner Augen blickte. „Hi“, begrüßte er Jenny, während er die Tassen unter den Automaten stellte und eine neue Kapsel in den dafür vorgesehenen Behälter steckte. Als die Maschine begann zu laufen, drehte er sich herum und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Er beobachtete, wie die Kollegin mit einem Löffel den Schaum von ihrem Cappuccino kratzte und dann in den Mund gleiten ließ, während sie eine Klatschzeitschrift las. Jenny hob den Kopf von ihrer Zeitschrift und sah ihn an. „Wie geht es deinem Arm?“ „Geht schon, es ist nicht besonders wild.“ „Ich hatte Angst, als im Funk durchgesagt wurde, dass es einen verletzten Kollegen gab.“ Er lächelte. „Funkdisziplin, manchmal zum Vergessen“, murmelte Veikko und fuhr dabei mit der linken Hand über den Verband an seinem rechten Oberarm. „Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hast, heute nach Dienstschluss irgendetwas mit mir zu unternehmen“, sagte er schließlich, als er sich versichert hatte, dass niemand in der Nähe war. „Kino oder vielleicht auch einfach … wir müssen ja nicht weggehen“, fuhr er fort. Jenny nickte. „Wir können gemeinsam einen Film ausleihen … etwas kochen …“ Veikko sah sich wieder um, als würde er etwas unglaublich Verbotenes machen, bei dem er nicht ertappt werden wollte. „Bei dir? Ich weiß nicht, ob es bei mir so gut wäre, du weißt schon … wegen Ben.“ „Kein Problem“, sagte sie schnell und er lächelte. „Na dann. Ich komme dann so um zwanzig Uhr, okay?“ Er griff nach den zwei Kaffeetassen und verschwand wieder aus dem Aufenthaltsraum.


    Ben sah auf, als Veikko wieder ins Büro trat. Er kam nicht umher das leichte Grinsen zu bemerken, was seinen Mund umspielte. „Na was erfreuliches passiert beim Kaffee holen?“, fragte er nach und streckte die Hand aus, um eine Tasse mit Kaffee entgegenzunehmen. „Wie?“ „Du grinst, als wärst du gerade deiner Traumfrau begegnet.“ Ben sah an Veikko vorbei und verfolgte, wie Jenny ebenfalls mit einem Lächeln von ihrer Pause zurückkehrte. Sein Blick fiel wieder auf Veikko und ein hartnäckiger Gedanke machte sich in ihm breit. „Aha, ich sehe, du bist deiner Traumfrau begegnet!“ Der Schwarzhaarige zog die Augenbraue hoch und folgte seinem Blick. Veikko lachte und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Sicher Ben … deine Kombinationsgabe gleicht der von Sherlock Holmes.“ Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, kippte die Lehne leicht nach hinten. „Ach komm, rede dich nicht raus … ich sehe es dir doch an, du hast ein Auge auf Jenny geworfen und wie ich das sehe, sie auch auf dich.“ Veikko wandte sich der Akte vor sich zu. „Du siehst Gespenster Ben.“ „Nicht rausreden. Ich bin Experte, ich sehe so etwas!“ Der finnische Kollege sah auf und lachte nun noch lauter. „Du Experte. Wie lang hat denn deine längste Beziehung gedauert, dass du dich Experte in so etwas schimpfen darfst?“ „Lange genug, um es beurteilen zu können“, gab Ben kleinlaut bei und senkte den Blick eilig auf die Papiere. Als er kurz aufsah, merkte er, wie Veikko verstohlen in das Großraumbüro sah. Ben lächelte und senkte seinen dann Blick wieder. Er war zwar kein Beziehungsexperte, aber die Anzeichen waren so offensichtlich, da brauchte er nicht einmal Mikael um die Mimik und Gestik zu lesen. Der Kollege aus dem hohen Norden war über beide Ohren verknallt, auch wenn er es wohl nicht wahrhaben wollte, und Jenny schien es da nicht anders zu gehen.

  • Den Kopf an das trübe Busfenster gelehnt, verfolgte Mikael, wie die Häuser an ihm vorbeihuschten. Tarmo lag vor seinen Füßen und hatte den Kopf auf seinen Turnschuhen gebettet. Eigentlich war er nie besonders gerne Bus gefahren, aber seit er aus Alaska zurück war, hatte es sich zu einer Angewohnheit entwickelt. Er fuhr mit dem Rad oder nahm den Bus. Sein Auto benutzte er in den letzten Monaten nur selten. Vielleicht war es, weil er dann alleine war mit seinen Gedanken? Er wusste, dass es so war, auch wenn er es sich nicht ganz eingestehen wollte. Im Bus und auf den Straßen herrschte ein Geräuschpegel, der ihn davon abhielt, viel zu denken. Eine Tatsache, die ihn früher gestört hatte, die er nun aber schätzte. Zumindest noch. Er hoffte, dass es sich bald wieder ändern würde, doch die letzten Stunden hatten seine Hoffnungen in den Wind geschlagen. Als Antti und Semir begonnen hatten über die Arbeit zu reden und irgendwann Ben ins Gespräch kam, hatten sich die Ängste zurückgekämpft. Er hatte sich unter einem Vorwand verabschiedet und gehofft, dass es bald wieder vorbei war, doch es beschäftigte ihn weiterhin. Ben hatte vor seinen Augen tot im Gras gelegen und er hatte es nicht geschafft sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Er schluckte schwer und versuchte sich abzulenken, indem er zwei Jugendlichen dabei zuhörte, wie sie sich über eine App unterhielten. Es ging um eine neue Version von Instagram, die angeblich neue, coolere Optionen bereithielt. Für ihn lag darin kein Interesse. Er benutzte die Social-Media-Dienste dieser Welt ohnehin nur zur Recherche, dieses ganze zur Show stellen der eigenen Person war ihm zuwider.


    Nach sechs Haltestellen verließ er den Bus und ging die letzten Meter zu Fuß. Es dauerte nur etwa zehn Minuten bis zu seinem Haus. Nun saß er auf seinem Sofa und sah aus der Terrassentür. Das einzige Geräusch, was zu hören war, war das Ticken der Uhr und Tarmos gleichmäßiges Atmen. Er fühlte sich durch die Stille erdrückt. „Was für ein verdammte Ironie“, murmelte er leise zu sich selbst, „in Alaska war es immer still und es hat dich nicht gestört!“ Er spürte, wie seine Hände langsam zu zittern begannen. Beklemmung nahm von ihm Besitz und er wusste, dass er jetzt nicht alleine sein konnte.


    Mikael griff nach seinem Smartphone und wühlte sich durch die Kontaktliste, ehe er sich mit einem der Namen verbinden ließ. „Mikael, was ist?“, meldete sich nur nach wenigen Freitönen eine bekannte Stimme am anderen Ende. „Um ehrlich zu sein Kasper, mir fällt gerade die Decke auf den Kopf. Es ist so leise und ich …“ Er stockte und fuhr mit seiner rechten Hand durch das Gesicht. „Irgendwie fühle ich mich, als würde die Wohnung mich erdrücken.“ „Warst du nicht heute bei Antti? Wie lange bist du schon wieder bei dir?“ Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. „Ja, aber ich … als sie die ganze Zeit über Ben geredet haben und die Arbeit. Ich habe es nicht mehr ausgehalten und bin gegangen und nun sitze ich hier und fühle mich so müde, als hätte ich einen Marathon hinter mir und die Gedanken fliegen durch meinen Schädel.“ „Ich kann vorbeikommen, wenn du magst. Wir haben gerade nicht so viel zu tun und ich bin mir sicher, ich kann den Nachmittag freibekommen.“ „Danke, Kasper“, murmelte er und wartete darauf, dass die Person am anderen Ende das Gespräch beendete, ehe er auflegte. Er legte das Handy auf den Tisch und sah wieder aus dem Fenster.


    Die Gedanken begannen in seinem Gehirn ihre Kreise zu ziehen. Er bekam Kopfschmerzen. Schlimme Kopfschmerzen, schlimm wie schon lange nicht mehr. Nein, dass stimmte nicht ganz. Vor zwei Wochen, nachdem er im Präsidium bei Antti war, hatte er schon einmal solche Kopfschmerzen gehabt. Er legte sich auf das Sofa und presste die Hand gegen die Schläfe, doch sie wollten nicht nachlassen. Er würde aufstehen müssen, um sich Tabletten zu holen. Er setzte sich wieder auf und stellte die Füße auf den Boden, stand auf und wankte in die Küche.


    Wenig später krallten sich seine Hände an die Arbeitsplatte, um Halt zu finden. Der Schwindel nahm zu und seine Hände zitterten. Er spürte, wie ihm der Boden weggerissen wurde, er nahe der Ohnmacht war. Tarmo saß neben ihm und jaulte leise, stieß mit seiner Nase gegen seine Hand. „Ich-ich bin okay, keine Sorge T-Tarmo …“


    Er riss eine Schublade auf und griff nach der Tablettenschachtel, drückte hastig zwei in die Handfläche. Er ließ sie ein wenig im Mund zergehen, ehe er nach der Wasserflasche griff und sie herunterspülte. Der dumpfe Schmerz ließ langsam nach und erst jetzt nahm er ein Klingeln wahr. Er atmete tief durch und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Auch wenn die Tabletten langsam ihre Wirkung entfalteten, war ihm immer noch schwindelig und der lange Flur zur Haustür bewegte sich hin und her, als würde er auf einem kleinen Schifferboot laufen. Die Türklinke fühlte sich schwitzig an in seiner Hand und das grelle Licht von draußen stach brutal in seine Augen, als er die Tür aufzog, so dass er sie kurz zusammenkniff.


    Kasper musterte ihn kritisch, als er die Tür ganz geöffnet hatte. „Hast du Kopfschmerzen?“ Er nickte nur. Er konnte es sicherlich ohnehin nicht leugnen. Er musste elendig aussehen, zumindest fühlte er sich so. Kasper trat in den Hausflur und schien darauf zu warten, dass er die Kraft fand, sich von der Tür zu lösen, denn normalerweise ging sein Kollege immer direkt in das Wohnzimmer oder die Küche durch. „Ich kann dir ins Wohnzimmer helfen, wenn du magst“, sagte Kasper nun. Alles in Mikael sträubte sich gegen diesen Gedanken, doch schließlich stimmte er zu und ließ sich von Kasper zurück in das Wohnzimmer stützen. Endlich spürte er wieder das weiche Polster seines Sofas. „Danke“, sagte er im Flüsterton und sein Helfer nickte nur.


    Mikael hatte keine Ahnung, wie lange Kasper still auf dem Sessel saß und ihn ansah. Irgendwann schien sein Freund sicher zu sein, dass es ihm besser ging. Er erhob wieder die Stimme. „Möchtest du darüber reden?“ „Die schlechten Erinnerungen kamen wieder hoch“, antwortete er tonlos und lehnte den Kopf gegen seine Sofalehne. „Sie tun es jetzt wieder öfter. Gestern Nacht hatte ich einen Albtraum. Ben … er … er handelte von Ben.“ „Du willst nicht mit Antti darüber reden, nehme ich an?“ Er schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, warum er Antti anlog. Vielleicht wollte er ihn nicht beunruhigen. Er hatte Antti viel zu verdanken und wusste, dass er ihm vertrauen konnte, aber dennoch brachte er nicht den Mut auf, seinem Freund zu erklären, dass er es noch immer nicht geschafft hatte, die Vergangenheit ganz loszuwerden. Dass all seine Hoffnungen nach seiner Rückkehr aus Alaska inzwischen zerschlagen waren und er wieder begann Albträume zu bekommen. Vielleicht war es aber auch der Grund, dass Antti ihn so weit unten gesehen hatte, wie kaum ein anderer. Er spürte, dass Antti sich unwohl fühlte, wenn er mit ihm über so etwas redete. Bei Kasper war es anders. Der fast gleichalte Polizist zeigte zwar Sorge, aber keine, die erdrückend wirkte.


    Mikael atmete tief durch. „Du sagtest, dass du einen guten Arzt weißt, der mir helfen kann … mit diesen Erinnerungen und der Angst.“ Er hatte den Satz so schnell gesagt, dass er sich nicht sicher war, ob Kasper ihn überhaupt verstanden hatte. Sein Gegenüber lächelte. „Ich gebe dir die Telefonnummer und die Adresse. Er wird dir helfen können, da bin ich mir sicher.“ Mikael nickte und hielt ihm sein Smartphone hin, in das dieser kurz darauf die Nummer eintippte. „Kasper … ich-ich habe Angst, dass ich Eva …“ Der Blonde blickte wieder auf und sah in seine Augen. „Du wirst Eva nicht verlieren“, sagte er und zog die Mundwinkel dabei nach oben. „Was … wenn ich diese Angst nicht besiegen kann und ich-ich … wenn es wieder schlimmer wird. Was, wenn ich Depressionen habe? Ich diesen Gedanken nicht entkommen kann?“ Er knetete unsicher seine Hände. „Du hast es doch geschafft, als du in Alaska warst. Jetzt musst du es nur noch in der gewohnten Umgebung schaffen. Ich habe Vertrauen in dich.“ Kasper blieb für einige Sekunden still, ehe er fortfuhr: „Du hattest diese Gedanken nicht, als Eva und die Kinder hier waren, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist doch gut. Es wird nicht wieder schlimmer werden.“ „Und dieser Arzt, du denkst, er kann mir wirklich helfen?“ „Er hat meiner Familie geholfen, nach dem Mord an meiner Schwester, er wird dir auch helfen können.“ Mikael nickte und nahm sein Handy entgegen, als Kasper es ihm reichte.


    „Soll ich dich beim ersten Mal hinbringen? Ich weiß, wie schwer es ist, aber wenn du dich dann erst einmal überwunden hast, wird es bei jedem Mal leichter.“ „Ja“, sagte er leise. Der Blonde nickte. „Sind deine Kopfschmerzen besser?“ „Ja, die Tabletten wirken inzwischen.“ Mikael verfolgte, wie Kasper sich erhob. „Gut, dann lass uns los. Ich habe mir schon das passende Programm überlegt für heute. Wir werden in die Boulderhalle fahren. Wann kommt Eva wieder?“ „Morgen Mittag.“ „Gut, dann wirst du bei mir übernachten.“ „Ich kann auch hier schl…“ „Nein, keine Widerrede“, gab ihm Kasper zu verstehen. Er wollte etwas erwidern, ließ es aber dann bleiben. Kasper hatte Recht, es war sicherlich besser, wenn er nicht alleine war. Er nickte und folgte Kasper, der inzwischen die Haustür geöffnet hatte. „Tarmo, komm!“, rief er in den Flur und wenig später kam der Hund um die Ecke, um den beiden Männern aus dem Haus zu folgen.

  • Jenny atmete ein letztes Mal tief durch und öffnete dann die Tür. Veikko stand an das Treppengeländer gelehnt und lächelte. „Hallo, schöne Frau!“ Dann machte er einen Schritt auf sie zu und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange, seine Hand striff dabei zärtlich ihre Hüfte entlang, ehe er an ihr vorbei in die Wohnung trat. „Hi“, entgegnete sie, schloss die Tür und folgte ihm ins Wohnzimmer. „Ich kann nicht glauben, dass du Ben immer noch an der Nase herumführen kannst“, begann sie, während sie Veikko von hinten umarmte und ihm einen Kuss auf den Nacken drückte. „Es war nicht besonders schwer. Er denkt, dass ich mal wieder in einen Club gehe. Einen drauf machen …“ Sie lachte leise. „Du warst doch noch nie in einem Club, seit du in Köln bist.“ „Das weiß ich, aber Ben doch nicht“, sagte er und griff nach ihren Händen, um sie fest zu umschließen. „Wobei ich glaube, dass er langsam etwas ahnt. Er hat heute etwas angedeutet.“


    Jenny löste sich langsam und ging in Richtung Küche, um das Essen vorzubereiten. „Möchtest du ein Glas Wein?“ Er nickte und folgte ihr. Veikko sog den Duft nach Kräutern, Knoblauch und Butter ein. „Das riecht super“, sagte er und griff nach der Gabel, um eine Nudel herauszufischen. „Lecker!“
    Jenny schenkte Wein ein, stellte das Glas auf den kleinen Holztisch in der Küche und füllte die beiden Teller. Dann setzte sie sich gegenüber von ihm hin. „Wie lange hast du vor, das alles noch vor Ben und den anderen zu verheimlichen?“ Sie waren nun schon fast zwei Monate zusammen und taten dennoch so, als würden sie nur Kollegen sein. „Auf die Dauer ist das Ganze ziemlich anstrengend, oder nicht?“, fügte sie an. „Ich will noch etwas warten“, antwortete ihr Veikko, wie so oft, wenn sie diese Unterhaltung geführt hatten. Er hob das Glas. „Zum Wohl.“ Sie hob ihr Glas ebenfalls und sie tranken. „Wegen deiner Ex-Frau?“ Jenny stellte ihr Glas ab. „Weil es damals nicht geklappt hat zwischen zwei Kollegen?“
    „Wir waren nie wirklich Kollegen. Sie hat die Ausbildung nie beendet, als sie mit unserer Tochter schwanger war.“
    „Du weißt, wie ich das meine.“
    Er nahm einen Schluck Wein. „Ja, ich weiß, wie du es meinst. Vielleicht, ja vielleicht ist das der Grund.“ Veikko griff nach ihrer Hand. „Aber hör mal, du weißt, wie Beziehungen unter Kollegen aussehen und das Arbeitsklima beeinflussen können.“ „Vielleicht schämst du dich ja auch einfach für mich“, antwortete die junge Polizistin missmutig. Manchmal wurde sie aus Veikko einfach nicht schlau. Sie fand es eher bedrückend, es vor allen verheimlichen zu müssen und im Büro zu tun, als wären sie nichts als Kollegen, als würde Veikko ihr nicht viel mehr bedeuten als Ben oder Bonrath. „Nein … Gott, natürlich nicht!“ Er fuhr mit den Fingern sanft über ihren Handrücken. „Wirklich Jenny … ich schäme mich nicht für dich. Lass uns nur noch ein paar Tage warten.“ Sie nickte. „Ich habe die Bewerbung übrigens bei der Chefin abgegeben, du weißt schon, wegen des Austauschprojekts.“ Veikko nickte. „Natürlich. Ich bin mir sicher, sie werden dich nehmen … du bist eine gute Polizistin.“ Jenny sah verlegen auf ihren Teller. „Aber bringe ich auch etwas mit, was euch von Nutzen ist?“ „Deine Schönheit, deinen Witz, dein Einfühlungsvermögen …“ Die junge Beamtin begann zu lachen. „Sei doch einmal ernst, Veikko!“, schimpfte sie und beugte sich dabei über den Tisch, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Ich bin doch ehrlich. So ehrlich war ich schon lange nicht mehr!“, empörte er sich und lachte nun ebenfalls.


    *


    Ben sah aus dem Fenster in die Nacht. Er hielt sein Handy ans Ohr und lauschte Mikaels Worten. Sein Freund schien einen schweren Tag hinter sich gehabt zu haben, berichtete von einem Albtraum und dem Frühstück bei Antti. Ben schmunzelte bei den Worten von Mikael. Er hatte die Geschichte heute schon einmal gehört, allerdings von Semir und dem war nicht einmal aufgefallen, dass Mikael fluchtartig das Haus verlassen hatte. Mikael erzählte ihm, dass er sich keine Sorgen machen sollte, aber die machte er sich längst. Es schien seinem Freund gerade erst wieder besser zu gehen, da schien die Vergangenheit wieder zuzupacken und ihn wieder herunterzuziehen. Ben konnte die Verzweiflung in Mikaels Stimme hören. „Du bekommst das wieder hin, ich bin mir sicher“, redete er ihm gut zu und sah dabei aus dem Fenster, geradewegs auf seinen Balkon. Das war der Ort, wo Mikael sich vor acht Monaten herunterstürzen wollte. Ben war nicht dabei gewesen, hatte zu der Zeit im Koma gelegen, aber er hatte dennoch davon geträumt und alleine das machte ihm Angst.


    Es fiel ihm noch immer schwer zu glauben, dass Mikael auch nach den ganzen Monaten noch nicht zurück in den Alltag gefunden hatte. Es gab viele gute Tage, aber es gab auch schlechte, wie den heutigen. Manchmal verspürte Ben den Wunsch einfach alles stehen und liegen zu lassen, um nach Finnland zu fliegen. Er wollte für Mikael da sein, wirklich da sein und ihm nicht nur am Telefon gut zureden. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich es Eva sagen soll“, holte die Stimme des Finnen ihn wieder zurück aus seinen Gedanken. Ben nickte, obwohl Mikael es überhaupt nicht sehen konnte. „Sie hat ein Recht darauf, oder denkst du nicht?“ „Ich weiß nicht … ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Du kennst sie, sie macht sich immer Sorgen.“ Mikael hatte Recht. Eva machte sich immer Sorgen und sie hatte Angst Mikael zu verlieren. Sie war in einer Welt aufgewachsen, in der es kein Leid gab, wo man nicht kämpfen musste für sein Glück und genau das schien das Glück der beiden nun zu belasten. Eva wusste nicht, wie sie mit all dem umgehen sollte und Mikael wusste nicht, wie er die Menschen, die ihm wichtig waren, um Hilfe bitten sollte. Er hatte seine Probleme über Jahre alleine gelöst. Da wo er herkam, fragte man nicht um Hilfe. „Sie wird es verstehen“, antworte Ben seinem Freund nach einer gefühlten Ewigkeit und war sich nicht einmal sicher, ob es stimmte, was er gerade erzählte. „Denkst du das wirklich?“ „Natürlich. Ihr zwei, ihr seid doch füreinander geschaffen. Du hast selbst erzählt, wie gut es derzeit läuft“, bekräftigte er. „Manchmal denke ich, das ist alles nur Theater, Fassade …“ Ben hatte sich inzwischen von dem Fenster gelöst und saß nun auf dem Sofa. „Wie meinst du das?“ „Es wirkt alles so aufgesetzt und unwirklich … ich … vielleicht liegt es auch an mir. Vielleicht bin ich einfach zu abgestumpft für diese Scheiße.“ Der deutsche Kommissar konnte die Wut in Mikaels Stimme deutlich hören. „Willst du damit andeuten, dass du dich für Eva verstellst?“ „Natürlich nicht immer, aber was soll ich deiner Meinung nach tun? … Wenn ich es nicht tue, verliere ich sie und zumindest das weiß ich noch – ich liebe sie. Ich liebe sie und ich liebe meine Kinder.“ „Aber, wenn du ihr das Glück nur vorspielst …“ „Der Punkt ist doch, dass ich nicht weiß, ob sie es auch tut“, fuhr Mikael dazwischen, ehe er seinen Satz beenden konnte. „Du bist doch der Profiler.“ „Ich bin derzeit nicht besonders gut …“, murmelte sein Freund verlegen. Ben fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Rede mir ihr darüber“, sagte er nun. „Rede mit ihr über deine Sorgen, sonst wirst du es ewig mit dir rumtragen. Eine neue Bürde auf deine Schultern laden und so viele kannst du nicht mehr tragen, also rede mit ihr, sonst werde ich es machen.“ „Das würdest du nicht machen.“ Panik durchflutete Mikaels Stimme. „Natürlich werde ich das, wenn du den Mut nicht aufbringst, mit der Person zu reden, die für dich alles bedeutet.“


    Weit entfernt hörte Ben, wie sich eine weitere Stimme in das Gespräch einmischte, etwas auf Finnisch zu Mikael sagte. „Was sagt Kasper?“, wollte er wissen. „Das werde ich dir nicht sagen“, antwortete sein Freund. „Ich sagte, dass Eva mich genommen hätte, wenn sie die perfekte Beziehung hätte haben wollen“, kam es aus dem Hintergrund. „Da hat er Recht, Mikael. Hör auf dir Gedanken zu machen und rede mit Eva, wenn sie wieder zurück ist.“ „Gut … ja okay, vielleicht habt ihr Recht …“ Ben schüttelte den Kopf. Er hoffte, dass es nicht eine Antwort war, die Mikael ihm gab, um die Diskussion zu beenden, sondern dass er es auch wirklich machen würde.

  • Jenny blinzelte. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen in das Zimmer und blendeten sie. Veikko schlief an ihren Rücken geschmiegt und hatte einen Arm um ihre Taille gelegt. Sie lächelte. Es fühlte sich gut an endlich wieder jemanden zu haben mit dem man gemeinsam aufwachte. Das zwischen ihnen war passiert, ohne dass Veikko oder sie es beabsichtigt hatten. Ganz im Gegenteil, nach ihrem ersten Kuss hatten sie versucht die Tatsache zu ignorieren, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten. Beide waren sich aus Erfahrung darüber bewusst, dass eine Beziehung am Arbeitsplatz selten funktionierte. Nun war alle anders gekommen. Sie spürte seinen Herzschlag, der ruhig und rhythmisch gegen ihren Körper schlug.
    Als sie versuchte, unter Veikkos Arm hindurch aus dem Bett zu schleichen, murmelte er etwas im Schlaf und hielt sie fest. „Veikko“, flüsterte sie. „Mhm.“ Seine Lippen streiften ihren Rücken. „Wir müssen uns fertig machen. Bald ist Dienstbeginn.“ „Nur noch ein paar Minuten …“, nuschelte der Schwarzhaarige und zog sie zu sich, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Jenny befreite sich aus dem Griff ihres nächtlichen Besuchers. „Wir sind ohnehin schon spät dran“, sagte sie und suchte eilig im Kleiderschrank nach einigen Klamotten. „Ich komm eh immer zu spät“, hörte sie Veikko aus dem Bett protestieren. Sie lachte. „Nur bist du heute nicht bei Ben.“ „Geh doch schon einmal duschen, ich komm nach.“ Jenny gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf aber nicht wieder ein, wir haben nicht viel Zeit!“


    Nachdem Jenny ins Bad verschwunden war, ließ Veikko sich stöhnend zurück ins Bett fallen und schloss die Augen. „Nur noch ein paar Minuten“, nuschelte er müde zu sich selbst.
    „Veikko!“ Als er die Augen wieder aufmachte, landete ein Kissen in seinem Gesicht. „Du bist wieder eingeschlafen. Wir müssen in zehn Minuten los. Hopp, hopp!“ Er sprang auf und wühlte auf dem Boden nach seinen Kleidungsstücken. „Scheiße, warum sagst du denn früher nichts!“, schimpfte er, als er unter dem Bett eine Socke hervorzog. „Das habe ich, da hast du gesagt, dass du später nachkommst.“ Er hörte ein Lachen. „Ich schaffe es auch so. Alles in bester Ordnung … ich bin gleich startklar!“
    Punkt acht sah Veikko zu, wie der Kaffee aus der Maschine des Aufenthaltsraums der Dienststelle in seine Tasse lief. „Na ist wohl spät geworden?“ Ben hatte sich hinter ihm platziert und lehnte am Türrahmen. „Schon“, murmelte er und griff nach dem Kaffee, um sich einen großen Schluck zu gönnen. Er hatte bei Jenny einfach keine Zeit mehr dafür gehabt, nachdem er verschlafen hatte. „Da ich dich heute Morgen nicht angetroffen habe, nehme ich an, dass du etwas Nettes gefunden hast in der Disko.“ Fast hätte er sich verquatscht und Ben gefragt, welche Disko er meine, aber das kleine Detail fiel ihm gerade rechtzeitig ein. „Ja …“ „Ich sehe schon, du bist noch nicht richtig wach.“ Er nickte und umgriff die Tasse enger mit seinen Fingern. „Ich wollte dir auch nur Bescheid geben, dass Hartmut deine Ergebnisse hat. Wir können gleich hinfahren, wenn du magst.“ Plötzlich war er hellwach. „Die Kugel?“, fragte er nach, obwohl es eigentlich offensichtlich war, dass Ben darauf hinaus wollte. „Ja.“ Veikko trank eilig seinen Kaffee aus und stellte die Tasse in das Spülbecken. „Gut, ich bin bereit. Lass uns zu Hartmut fahren.“
    Als sie in die Werkstatt der KTU traten, löste sich Hartmut von seinem PC und grinste sie breit an. „Wusstet ihr, dass 2006 ein Täter anhand eines Eichenblattes überführt werden konnte? Verrückt, was heute mit Technik alles möglich ist.“ „Einstein, für eine Geschichtsstunde haben wir jetzt keine Zeit!“, erwiderte Ben genervt und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. „Also, was hast du für uns?“ Ehe der deutsche Kommissar eine Antwort auf seine Frage erhielt, ertönte von hinten Veikkos Stimme. „Man hat Blätter von 40 Eichen am Leichenfundort untersucht und mit einem Blatt verglichen, welches man im Kofferraum des Mannes der Toten gefunden hatte“, erzählte sein Partner die Geschichte des KTUlers weiter. Ben stöhnte innerlich auf. Er hätte es sich denken können, dass Veikko auf diese Geschichte anspringen würde. „Es war weltweit die erste Straftat, bei der DNA-Analysen von Pflanzen durchgeführt wurden“, beenden die beiden Männer ihre Anekdote der Kriminaltechnik im Kanon. Hartmuts Augen leuchteten. „Ich bin so froh über diesen internationalen Erfahrungsaustausch! Endlich gibt es Leute, die meine Arbeit schätzen.“
    Veikko nickte, während er sich hinter Hartmut stellte und interessiert die Ergebnisse betrachtete. „Schau dir das an Ben. Das ist der Hammer!“ Der finnische Kommissar klopfte dem Rotschopf auf die Schulter. „Wahnsinn, Top, dass du das so schnell hinbekommen hast.“ Bens Neugier war geweckt und er gesellte sich zu ihnen auf die andere Seite des Schreibtisches. Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit. „Ist das euer Ernst? Da stehen nur Zahlen“, schimpfte er und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Veikko sah kurz auf. „Es geht doch um die Zahlen …“ Ben war sich nicht sicher, ob der Kollege ihn gerade veräppeln wollte oder tatsächlich seine geäußerte Aussage ernst meinte. Er zumindest konnte aus dem Wirrwarr auf dem Bildschirm nichts Sinnvolles erkennen.
    „Was genau sagen uns denn die Zahlen?“, fragte er nun. „Ich hatte Recht, es ist Pjotr Kuznetsov. Ganz eindeutig, die Alkoholprobe stimmt mit den Daten überein, die ich Hartmut gegeben habe.“ „Also Russenmafia?“ Ben stöhnte auf. „Na wirklich toll. Da freut man sich ja direkt auf die Ermittlungen.“
    Veikko nickte. „Und nun sollten wir uns darum kümmern, wo wir diese Leute finden. Habt ihr einschlägige Lokale, die für Verbindungen mit der Russenmafia bekannt sind?“ „Keine Ahnung, also ich hatte zumindest bisher noch nicht das Vergnügen mit diesen Menschen.“ Ben fischte sein Handy aus seiner Tasche. „Aber ich bin mir sicher, dass Susanne das für uns rausfinden kann.“


    *


    Ben saß an seinem Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Sie hatten den ganzen Vormittag und Nachmittag damit verbracht auf neue Informationen zu warten. Veikko hatte es vor gut 15 Minuten an die frische Luft getrieben und nun fuhr sein finnischer Kollege mit dem Skateboard den Parkplatz vor der PAST ab und nutzte Blumenkübel, Bordsteine und Treppengeländer für Slides und andere Tricks. Er hatte Kopfhörer auf den Ohren und Ben lächelte bei dem Gedanken, dass Veikko darauf nicht etwa Punk oder Rock auf voller Lautstärke hörte, sondern klassische Musik.
    „Du bist ein Rätsel auf zwei Beinen“, hatte er zu Veikko gesagt, als er es das erste Mal mitbekommen hatte. „Und du bist ein Meister des Schubladendenkens“, war alles gewesen, was er als Antwort erhalten hatte.
    Ben hatte es geärgert, weil Veikko Recht gehabt hatte. Erst durch den finnischen Kollegen hatte er gemerkt, wie wenig er wirklich über diese Skaterszene wusste. Er hatte geglaubt, es wären allesamt Typen, die nichts in der Birne hatten und den ganzen Tag in Parks rumgammeln. Eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellte. Zumindest die Leute, die er durch Veikko kennengelernt hatte, waren anders.
    Seine Augen folgten seinem einige Jahre jüngeren Kollegen über den Parkplatz. Automatisch begann Ben damit die Tricks im Inneren seines Kopfes aufzuzählen, die Veikko machte. „So weit ist es also schon gekommen“, murmelte er laut zu sich selbst. Vor ein paar Monaten hätte er sich nicht träumen lassen, Bezeichnungen wie Heelflip, Pop Shove-It, Crooked Grind zu kennen und auch noch zu wissen, was sie bedeuteten und nun hatte sich dieses Wissen automatisiert.
    „Wozu ist es gekommen?“ Er löste seinen Blick von dem Fenster und stellte verwundert fest, dass Susanne vor seinem Schreibtisch stand. Er lächelte. „Ach nichts … hat mit unserem Finnen zu tun.“ Die blonde Sekretärin sah aus dem Fenster und grinste. „Nicht, dass ihn wieder einer der Kollegen dafür drankriegen will, weil er nicht weiß, dass er Hauptkommissar ist.“ Ben lachte. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, was passiert war, als Veikko zum ersten Mal vor der PAST mit dem Skateboard rumgefahren war. Ein uniformierter Kollege um die 50 hatte ihn vom Board gerissen und wollte seine Personalien haben. „Er hat ja seinen Dienstausweis in der Hose“, winkte Ben ab. Er lehnte sich zurück. „Hast du was für uns herausgefunden?“ Sie nickte und reichte ihm ein Blatt Papier. „Ich bin einige Datenbanken durchgegangen und habe euch ein paar einschlägige Adressen herausgesucht. Der Rest liegt bei euch.“ Er griff nach dem Papier und scannte es kurz mit seinen Augen. Die Menge hielt sich in Grenzen und so würden sie es vielleicht heute noch schaffen. Er bedankte sich kurz bei Susanne und ging dann zum Fenster, um es zu öffnen. „Veikko! Es gibt Arbeit!“, schrie er auf den Parkplatz, bekam jedoch keine Reaktion.
    Also griff Ben nach seiner Jacke und seinen Autoschlüsseln. Er musste ohnehin in die Richtung, wenn er zum Auto wollte, da konnte er Veikko gleich dort Bescheid geben. Als er vor die Tür getreten war, hörte er das typische Surren der Rollen über den Asphalt. Er gab Veikko ein Zeichen, woraufhin der finnische Hauptkommissar anhielt und die Kopfhörer vom Kopf nahm. „Was ist?“ „Susanne hat uns die Adressen zusammengesucht. Wir werden gleich damit anfangen, oder was meinst du?“ Der Schwarzhaarige nickte und klemmte sich das Skateboard unter den Arm. „Ich habe mir Gedanken gemacht, was die hier vielleicht wollen … also in Köln.“ „Dass du dir Gedanken gemacht hast, war nicht zu überhören. Lauter hast du deine Musik nicht bekommen? Weißt aber, dass es schädlich für das Gehör ist?“ „Die Autobahn ist so laut, wie soll man da sonst denken?“ Veikko lächelte breit. „Auf jeden Fall. Meine Antwort: Drogen.“ Ben zog skeptisch die Augenbraue hoch. „Das ist alles? Nun, die Sache haben wir doch die ganze Zeit in Betracht gezogen, oder nicht?“ „Hör mal … in Helsinki gehen denen vielleicht die Esten auf den Sack, was ist da die beste Option? Einen neuen Markt erschließen!“

  • Kasper Kramsu duckte sich unter der Polizeiabsperrung durch und versenkte die durchgefrorenen Hände in seinen Taschen. Er hätte am Morgen nicht Mikael fragen sollen, ob es draußen kalt war. Sein Freund fror selten und es kam vor, dass er auch noch bei leichten Minusgraden im Kapuzenpullover vor die Tür trat. „Auch schon da, Kramsu“, empfing ihn sein Kollege. Er nickte, während er in die Richtung lief, wo der Gerichtsmediziner vor einer Leiche kniete und eifrig in sein Aufnahmegerät sprach. Es war kein schöner Anblick. Der Körper des Mannes, den er um die 40 schätzte, lag in einer riesigen Blutlache. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und die Augen vor Schreck geweitet. Er ließ seinen Blick über den Leichnam gleiten. Die Kniescheiben zerschossen, ein Schuss in den Kopf und einen ins Herz. „Kuznetsov“, sagte er in Gedanken und holte dabei sein Handy aus der Tasche. So leid es ihm tat, er musste in diesem Fall den Teamleiter informieren, auch wenn dieser im Urlaub war. Er drehte sich von dem Toten weg und lief mit seinem Smartphone am Ohr einige Meter. Immer wieder hob er leicht die Hand, um einige Kollegen zu grüßen, die ihm entgegenkamen. „Bitte sag, dass wir keinen Mordfall haben, der nicht ein paar Tage warten kann“, empfing ihn eine kratzige Stimme am anderen Ende der Leitung. „Die Russen haben wieder zugeschlagen“, war alles, was er sagen musste, ehe er die volle Aufmerksamkeit hatte. „Wann?“ „Die Leiche wurde gerade gefunden … an der Abfahrt zum Flughafen“, antwortete er, „Es war das Werk von Pjotr Kuznetsov.“ Er hörte, wie Antti aufstöhnte und laut fluchte. „Kuznetsov hat schon lange kein Geschenk mehr hinterlassen“, sagte sein älterer Kollege missmutig, „Ich hatte die Hoffnung, dass er sich zurückgezogen hat.“
    Sie schwiegen sich eine Weile an. „Ist Solheim bei dir oder bist du der einzige Kommissar vor Ort?“ Kasper sah sich um und verfolgte, wie Edvin Solheim aus seinem Auto stieg. „Er ist gerade gekommen, aber dir ist doch klar, dass unser Team momentan viel zu klei …“ „… jaja Kasper, ich weiß. Ich werde mit Rautianen darüber reden. In der Zeit wirst du mit Solheim die Zeugenbefragungen übernehmen und alles sammeln, was wir bisher haben. Sag der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung, dass dieser Fall die höchste Prio hat, die restlichen Fälle können warten.“ Ehe er etwas erwidern konnte, hatte Antti bereits aufgelegt. Er steckte sein Handy wieder ein und rieb sich die kalten Finger. Nie wieder würde er auf Mikael hören, dachte er.


    „Schöne Scheiße, was?“ Kasper drehte seinen Kopf nach rechts. Edvin Solheim hatte sich inzwischen neben ihm eingefunden. „Ja, dass kann man wohl sagen.“ „Kuznetsov?“ „Sieht derzeit alles danach aus … wie viele kannst du aus deinem Team abstellen?“ Solheim lächelte. „Du gehst also davon aus, dass ihr den Fall von Rautianen übertragen bekommt? Wie viele seid ihr eigentlich im Augenblick?“ Kasper verschränkte die Arme vor der Brust. „Zwei“, presste er schließlich heraus. „Doch so viele? Aber keine Angst, wir werden zusammengelegt. Rautianen will, dass wir in dieser Sache zusammenarbeiten. Deshalb bin ich auch hier.“
    Kasper nickte und drehte seinen Kopf zur Leiche. „Kannst du Häkkinen fragen, ob er uns Input geben kann?“, fragte Solheim nach einer Weile. Kasper sah überrascht auf den Kollegen. „Warum? Denkst du, dass Antti und ich nicht gut genug sind?“ „Quatsch, aber er hat ein größeres Know-how in dieser Sache, als wir zwei. Sowohl bei der Drogenfahndung, als auch bei der Mordkommission war er mit den Kuznetsov-Fällen beauftragt … der hat sicher noch alles schön in seinem Kopf abgespeichert.“ Solheim seufzte. „Ich wünschte ich hätte so ein Supergedächtnis.“ Kasper zuckte mit den Schultern und entfernte sich von Solheim in Richtung der Absperrung, um nach Zeugen zu suchen. „Glaub mir, Edvin, das kann auch ein Fluch sein.“ „Kannst du ihn nicht fragen, ob er dir ein paar wichtige Fakten gibt?“ Der Jungkommissar drehte sich wieder um. „Nein, tut mir leid Edvin. Ihm geht es im Augenblick nicht wirklich gut, ein Mordfall ist das Letzte, was er gebrauchen kann.“ „Antti hat gesagt, dass es ihm besser geht“, konterte Solheim sofort. „Und ich sage dir, dass er nicht bereit dafür ist. Ich werde ihn nicht fragen.“ Sein Kollege folgte ihm missmutig in Richtung Absperrung. „Und ich dachte immer, Antti wäre der Überfürsorgliche.“ Kasper zuckte mit den Schultern.


    Wenige Stunden später stand Kasper in Anttis Büro und erstatte ihm Bericht. Der Ältere nickte nachdenklich und reichte ihm dann eine Mappe. „Was ist das?“, fragte er. „Sieh rein.“ Er öffnete den Deckel der Akte und las den Inhalt aufmerksam durch. „Eine Leiche in Köln. Interessant“, murmelte er, während er die Fakten überflog. Er schloss die Akte schließlich wieder und reichte das Schriftstück. „Kuznetsov weitet seinen Markt aus.“ Antti nickte.
    „Wir sollten Veikko und Ben darüber informieren, was wir heute gefunden haben. Zwei Leichen in so einer kurzen Zeit sind selbst für unsere Mafiagröße ungewöhnlich, oder nicht?“
    „Ja, denke ich auch.“
    „Würdest du das machen? Ich werde dann Rautianen über diese Sache informieren und Solheim beauftragen einige Adressen abzuklappern.“
    „Solheim wird nicht besonders glücklich sein, wenn du nun die Führung der Ermittlungen übernimmst.“
    Antti lachte. „Damit wird er leben müssen. Ich bin sein Vorgesetzter und ich bin mir sicher, die Jungs von der KRP warten schon darauf uns diesen Fall wegzuschnappen, aber ich sag dir was. Wir haben all die Jahre die Arbeit geleistet und ich werde die nicht die Lorbeeren einstreichen lassen.“
    Kasper nickte und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Er griff nach seinem Telefon und wählte die Nummer von Veikkos deutschem Diensthandy. Es trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte, während er verfolge, wie Antti den Raum verließ. „Ah, da bist du ja endlich!“, ließ er erleichtert verlauten, als er nach einer gefühlten Ewigkeit die Stimme seines Kollegen vernahm. „Hör mal, ich habe hier etwas, das wird auch euch sicherlich von Interesse sein“, begann Kasper dann und berichtete Veikko von den Ereignissen am Vormittag und ihrem Verdacht, dass es sich um Kuznetsovs Werk handelte. Sein Freund hörte aufmerksam zu und erklärte ihm daraufhin, wie sie vorhatten weiter vorzugehen. Im Augenblick waren sie in Köln dabei einige Personen aus dem Milieu abzuklappern, die Verbindungen zu russischen Drogengeschäften hatten. Bisher hatte man noch nichts Verwertbares herausgefunden, aber noch waren es drei Namen auf der Liste, die sie besuchen mussten. Die Identität ihrer Leiche war ebenfalls unbekannt.


    Etwa 1,500 Kilometer südlich legte Veikko sein Handy weg und sah zur Seite auf Ben. „Es gibt einen Toten in Helsinki. Sie gehen davon aus, dass er ebenfalls auf das Konto von unserem netten Russen geht.“
    „Das ist doch alles sehr suspekt. Zwei Morde, an zwei verschiedenen Orten.“
    „Naja, er hat sie ja ohnehin in Auftrag geben, da ist es sicherlich nicht das große Problem zwei Mörder zu finden.“
    Ben wog nachdenklich den Kopf leicht hin und her. „Gut da mag etwas dran sein. Wer ist der nächste Mann auf unserer Liste?“
    „Topias Miettinen. Er hatte bis vor ein paar Jahren ein Restaurant in Helsinki, stand unter Beobachtung des KRP, weil er eine Verbindung zu Kuznetsov haben soll. Man konnte ihm nichts nachweisen.“
    „KRP?“, hakte Ben nach, dem die Abkürzung nicht geläufig war.
    „Keskusrikospoliisi. Eine zentrale Behörde der finnischen Polizei, Hauptaufgabe ist die landesweite Bekämpfung der organisierten und besonders schweren Kriminalität ... die wollten Mikael vor zwei Jahren mal abwerben“, spulte Veikko schon fast gelangweilt runter.
    „Also ne große Nummer?“
    „Kann man so sagen.“


    Ben nickte und konzentrierte sich nun wieder auf den inzwischen immer dichter werdenden Verkehr. Ohne dass er es wollte, verfiel er ins Grübeln. Mikael schien in seinem Job alles erreichen zu können und doch war sein Freund am Polizeidienst zerbrochen. „Denkst du Mikael wird zurückkommen?“ Als er vor einer roten Ampel das Auto zum Stehen brachte, sah er kurz zur Seite auf Veikko. Dieser zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht Ben, ich weiß es wirklich nicht.“ Der braunhaarige Kommissar nickte. „Er hat gestern bei mir angerufen. Es ging ihm nicht gut. Ich habe Angst, dass er wieder abstürzen wird. Dass ihm das alles zu viel wird, wo er jetzt wieder in Helsinki ist.“
    „Kasper und Antti werden ein Auge auf ihn haben. Er wird es schon schaffen“, redete sein Beifahrer ihm gut zu.
    „Ja, vermutlich.“
    „Nicht vermutlich. Ganz bestimmt. Und nun gib Gas, wir haben Grün.“
    Bens Blick fiel wieder nach vorne. Die Ampel war tatsächlich auf Grün umgesprungen und das aufgeregte Gehupe hinter ihm deutete an, dass sie es auch wohl schon seit einiger Zeit war. Hastig legte er einen Gang ein und drückte aufs Gas.

  • „Papa! Papa!“ Viivi rannte auf Mikael zu und er hob sie mit einem Arm hoch. Sie gab ihm gleich mehrere Küsschen, ohne dass er sich herauswinden konnte. Er legte Eva den anderen Arm um die Taille und küsste sie auf den Mund. „Wie war es bei deiner Oma in Rovaniemi?“, fragte er. „Oskari war auf dem Flug etwas anstrengend.“
    „Mama wollte mir das Spielzeug nicht kaufen“, empörte sich der Angesprochene sofort und er lächelte, während er mit der Hand durch die Haare seines Sohnes fuhr. „Da hat die Mama sicher auch Recht gehabt. Du hast doch so viel Spielzeug.“ „Aber nicht genau das!“, konterte Oskari sofort. „Wenn du es in zwei Wochen immer noch haben willst, dann reden wir noch einmal darüber, okay?!“ Er vernahm ein eifriges Nicken seines Sohnes und gab Eva abermals einen Kuss. „Bist du zurechtgekommen?“, wollte sie wissen und er nickte. „Ja … alles gut“, beschwichtigte er und griff nach der Tasche, um sie in Richtung Auto zu tragen. Er hörte Evas Stöckelschuhe und die tapsigen Schritte seiner Kinder hinter sich. „Wirklich?“, ertönte die Stimme seiner Frau, als sie das Auto erreichten. „Ja. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken.“ Sie nickte und setzte die Kinder ins Auto, während er die Tasche in den Kofferraum stellte und sich wenig später hinter das Lenkrad setzte. Er schloss für einen Augenblick die Augen. Es war alles gut. Seine Familie war hier. Es ging ihm gut. Die letzten Tage waren nicht von Bedeutung gewesen – ein mentaler Ausrutscher nichts weiter. Er öffnete die Augen wieder, als die Beifahrertür aufgerissen wurde und Eva sich neben ihn setzte. „Ich habe etwas Teig vorbereitet. Wir können eine Pizza backen, wenn wir zu Hause sind“, sagte er und setzte ein Lächeln auf. „Au ja!“, ertönte es sofort von der Rückbank und er startete den Wagen.


    Wenige Stunden später schliefen die Kinder. Auf dem Tisch standen zwei halb geleerte Weingläser und Eva hatte sich an ihn gelehnt. Die Balkontür war auf kipp gestellt und sie lauschten dem Wind, der um die Ecken wehte und an dem Geäst der Bäume zerrte. „Ich bin froh, dass wir wieder in Helsinki sind. Hier ist es viel milder“, sagte Eva. „Und die Kinder haben dich vermisst. Sie dachten schon, es läuft wieder darauf hinaus, dass sie dich lange nur am Telefon sprechen können.“
    Er nahm einen Schluck von dem Wein. So sehr er sich bemühte, war er mit den Gedanken doch nicht bei seiner Familie. Als er zum Flughafen gefahren war, hatte er fast einen Unfall verursacht, weil er von den Erinnerungen abgelenkt war. Als er Viivi im Arm gehalten hatte, war für einen Augenblick die Angst und Panik fort gewesen, doch nun arbeitete sie sich wieder an die Oberfläche. Es wurde wieder schlimmer. Seine dunklen Gedanken und dieses niederschmetternde Gefühl der absoluten Hilflosigkeit waren zurück. Es spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Er saß reglos da. Seine Mundwinkel waren zu einer nichtssagenden Fratze erstarrt. Sein Blick ging ins Leere.
    Plötzlich spürt er eine Hand auf seiner Wange, sein Körper löste sich wieder aus der Starre und war aus der anderen Welt zurückgekehrt. Evas Hand drehte seinen Kopf zärtlich zu sich. „Was ist los? Du siehst bedrückt aus.“
    „Es geht mir gut. Ich war nur in Gedanken.“
    „Du lügst.“
    „Nein, es ist die Wahrheit. Es geht mir gut. Wirklich.“
    „Nur weil du es wieder und wieder wiederholst, wird es noch lange nicht zur Wahrheit.“
    Er sah in Evas Augen. Er meinte Leid und Enttäuschung darin sehen zu können. Er erinnerte sich an die Gespräche, die er gestern mit Kasper und Ben geführt hatte. Die Wahrheit, sie hat ein Recht auf die Wahrheit. „Es hat wieder angefangen“, flüsterte er leise, „Die Albträume, die Panik … die Schuld … ich kann es nicht aufhalten. Es nimmt mich wieder ein … nicht immer, aber immer öfter.“ Ihre Hand lag immer noch auf seiner Wange. Er spürte, wie sie begonnen hatte zu zittern. „Ich … Eva ich denke …“ Er griff nach ihrer Hand und löste sie von seinem Gesicht. „Ich habe mir von Kasper eine Adresse geben lassen. Ich werde einen Psychologen besuchen … ich will euch nicht verlieren, ich will das alles endlich loswerden!“ Eva nickte nur, antwortete ihm jedoch nicht. Er schluckte und drückte ihre Hand fester. „Ich muss etwas wissen … von dir. Ich will, dass du die Wahrheit sagst …“ Sie nickte unsicher. „Liebst du mich noch?“ Sie sah ihn fragend an. „Wieso fragst du so etwas?“
    „Ich brauche dich – mehr als alles andere. Ohne dich schaffe ich das nicht. Aber brauchst du mich noch? Liebst du mich noch?“ „Du denkst, ich liebe dich nicht mehr?“, schluchzte sie und er sah, wie ihre Augen feucht wurden. Sie ließ seine Hand los. „Wie kannst du so etwas denken?“ „Das ist keine Antwort auf meine Frage“, stellte er fest. „Du weichst mir aus seit ich wieder in Helsinki bin und du wolltest nicht, dass ich mit zu deiner Oma komme.“ Er war aufgestanden, doch auch sie war hochgeprescht. „Ich dachte, du wolltest nicht mit! Du bist es, der ausweicht“, schrie sie. „Ich weiche überhaupt nicht aus!“, konterte er. „Du brauchst nur zu sagen, wenn ich gehen soll. Wenn ich dein ach so tolles perfektes Leben kaputtmache!“ „Du benimmst dich wie ein trotziger Teenager! Die ganze Welt dreht sich nur um dich. Du hast jetzt den ganzen Tag Zeit, wo du noch beurlaubt bist, aber nie hast du dich auch nur länger als ein paar Stunden um uns gekümmert. Wir sind nicht tot Mikael! Wir sind hier, bei dir!“ Tränen liefen ihre Wangen herunter und sie wischte sie hektisch weg. „Das hier ist keine Familie mehr, du bist nicht fähig dazu! Du bist nicht fähig … zu lieben. Du bist …“, ihre Lippe bebte und sie verschluckte ein paar Worte „… ein Betonblock ohne Herz!“ Er schüttelte den Kopf und sah zur Erde. Er wollte nur noch eins, dieser fürchterlichen Situation zu entkommen. „Ich geh ins Bett, ich bin müde“, sagte er und zog sich in das Schlafzimmer zurück, ohne dass von ihrer Seite Gegenwehr kam.


    Er lag auf dem Bett und sah an die Decke. Er hatte mit den vier Worten den ganzen Abend kaputt gemacht. Er hörte Eva weinen, doch er fühlte sich außerstande, aufzustehen und sie zu trösten, also blieb er einfach liegen. All diese Worte, die sie gesagt hatte. Sie hatte Recht. Seit er zurück war, war er ihr aus dem Weg gegangen. Er wusste einfach nicht, wie er mit ihr umgehen sollte oder mit den Kindern. Er hatte in den letzten Wochen etwas verloren. Die Leichtigkeit des Lebens war ihm abhanden gekommen und er wusste nicht, wie er sie wiederfinden sollte. Aber er wusste, dass er Eva liebte. Er wusste, dass er sie nicht verlieren konnte, wo er sie doch gerade erst vor wenigen Jahren gefunden hatte. Sie machte ihn komplett. Sie hatte ihn über Jahre vor dem Absturz bewahrt. Was war da noch, wenn er sie und die Kinder auch noch verlieren würde? Manchmal erinnerte er sich an seinen Vater. Vielleicht hatte er viel zu viel von ihm geerbt? Sein Vater war immer da und doch auch zur gleichen Zeit auch nicht. Unnahbar in seiner eigenen Gedankenwelt.
    Irgendwann kam Eva ins Schlafzimmer und er schloss die Augen, um vorzugeben, dass er schlafen würde. Er spürte ihre kalte Hand auf seiner Brust, als sie sich hinlegte und sich an ihn kuschelte. „Ich habe dich immer geliebt. Das hat sich nicht geändert“, flüsterte sie leise und drückte sich anschließend näher an ihn. Ihre Finger fuhren durch seine Haare. „Wir schaffen das. Wir werden das durchstehen.“ Er vernahm ein leises Schluchzen und spürte feuchte Tränen auf seiner Haut. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien. Ich weiß, dass du uns liebst. Ich weiß es.“ Ich liebe nur euch, bestätigte er in seinen Gedanken, sprach es aber nicht laut aus.

  • Ben warf einen Blick aus dem Fenster in den Garten. Das kleine Holzhaus, welches in der Mitte einer großzügigen Grasfläche stand, war von der Dunkelheit inzwischen verschluckt worden. Er lauschte, wie Veikko dem Mann vor ihnen einige Fakten aufzählte, ohne dabei zu viel über den derzeitigen Ermittlungsstand zu verraten – sofern es denn überhaupt etwas zu verraten gab. Viel hatten sie immerhin bisher noch nicht herausgefunden.
    „Herr Miettinen. Im Melderegister steht, das Sie bis vor einigen Jahren in Finnland gelebt haben.“ Ben lenkte seinen Blick nun wieder auf den Mann vor ihnen. Topias Miettinen lächelte die beiden Polizisten an. „Ihr Akzent klingt auch nicht besonders Deutsch, Herr Lindström.“
    „Stimmt es, dass Sie in Finnland ein Lokal hatten?“, stellte Veikko die nächste Frage, ohne
    auf den Kommentar von Miettinen einzugehen.


    „Ja, wenn es so in ihren Akten steht, wird es wohl stimmen.“
    „In Helsinki?“
    „Ja, aber was soll den nun die ganze Fragerei? Ich habe nichts verbrochen.“
    Veikko nickte nur. „Pjotr Kuznetsov, sagt Ihnen der Name etwas?“
    „In meinem Gewerbe sollte man diesen Namen kennen“, antwortete ihr Gegenüber unbeeindruckt. „Haben Sie schon einmal mit ihm Geschäfte gemacht?“, fragte nun Ben.
    „Was hätte ich davon, Ihnen diese Information zu geben?“
    „Vielleicht wären wir etwas netter zu Ihnen. Um ehrlich zu sein, es könnte ziemlich ungemütlich werden, wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten wollen.“ Veikko lehnte sich zurück und lächelte. „Die KRP würde sicherlich gerne einen kleinen Tipp bekommen.“
    „Sie wollen mich erpressen? Die KRP weiß nichts und Sie auch nicht.“
    „Nun, ich sagte ja nicht, dass es der Wahrheit entsprechen muss. Wissen Sie, es ist nicht schwer ein paar Beweise zu fälschen, wenn man die richtigen Leute kennt. Also, haben Sie Geschäfte mit Kuznetsov gemacht?“
    „Ja ich habe mit Kuznetsov Geschäfte gemacht, aber das war alles legal. Nichts was die Polizei interessieren müsste“, gab Miettinen nun klein bei. „Aber ich weiß nicht, wo er ist und wer für ihn die Drecksarbeit erledigt. Deshalb sind Sie doch hier? Hören Sie ich will keinen Ärger, weder mit Kuznetsov noch mit der Polizei. Also bitte, lassen Sie mich in Ruhe.“


    „Du weißt, dass diese Drohung nicht besonders legal war. Wenn das jemand rausbekommt“, sagte Ben auf der Rückfahrt zum Polizeirevier beinahe beschwörend. Veikko jaulte auf. „Auuu, der Ruf der Wildnis. Da kann selbst ich manchmal nicht widerstehen.“ Sein Beifahrer lachte. „Aber im Ernst, Ben. Tu nicht so, als würdet ihr solche kleinen Drohungen bei der Autobahnpolizei nicht benutzen.“ Der Braunhaarige machte eine abfällige Handbewegung. „Jaja, ist ja gut. Ich hab verstanden. Es hat ja seinen Zweck erfüllt … oder auch nicht. Ich bin mir sicher, dass dieser Typ da mit drin hängt.“ Veikko lehnte den Arm an die Fensterscheibe und bettete seinen Kopf in seiner Handfläche. „Ja, ich weiß. Ich hab das gleiche dumme Gefühl in der Magengegend. Aber der Typ hatte auch eine seltsame Art von Angst.“
    „Ja?“
    „Irgendetwas an seiner Gestik. Er wirkte beunruhigt, aber ich bin nicht Mikael. Ich kann so etwas nicht so gut deuten wie er. Daher ist es nur so eine Vermutung. Aber wir können es nicht beweisen und das ist in unserem Beruf leider das Einzige, was zählt.“
    Ben nickte. „Denkst du unser Verdacht wird reichen, um die Staatsanwaltschaft von einer intensiven Überwachung zu überzeugen?“
    „Nein, ich denke nicht. Die Schrankmann wird uns auslachen, wenn wir damit antanzen.“
    Veikko stöhnte auf. „Ich hasse diesen verdammten Fall bereits jetzt. Wir haben keine Ahnung, wer der Tote ist. Wir wissen nicht was Kuznetsov in Köln will, noch wissen wir welcher seine Männer für die Schießerei auf der Raststätte verantwortlich ist. Wir wissen überhaupt nichts. Alles ist nur auf Vermutungen aufgebaut. Wie ein kleines Kartenhaus, welches bei einem kleinen Windstoß einstürzen könnte.“




    Wenige Stunden später saß Ben auf dem Sofa und lauschte den Geigenklängen, die aus Veikkos Zimmer drangen. Immer wieder wurden sie von einem leisen Fluchen unterbrochen, ehe das Stück von vorne zu beginnen schien. Vermutlich ärgerte sich Veikko über irgendeine Note, die er nicht ganz hinbekam. „Sag mal Veikko, dieser Kuznetsov. Denkst du, dass er in Köln sein könnte, um diesen neuen Markt persönlich einzurichten?“, rief er in Richtung des Gästezimmers und lehnte seinen Kopf dabei gegen das weiche Sofa. „Wir hatten doch ausgemacht, dass wir Zuhause nicht über die Arbeit sprechen“, kam nur kurz später die Antwort. Ben stöhnte auf. Diese Regel trieb ihn ohnehin schon in den Wahnsinn. „Du verspielst dich doch sonst nicht so oft, also wird dich gerade sicherlich dieselbe Frage beschäftigen.“ Er hörte Schritte und wenig später ging die Tür auf. Der Finne trat heraus, setzte sich auf das Sofa und zupfte an den Saiten seiner Geige. „Gut, du hast mich ertappt Ben“, gab er nun zu und lächelte breit. „Ja, ich halte es für möglich, dass Kuznetsov hier in Köln ist. Aber selbst wenn, er wird sich dir nicht zeigen. Der Typ ist ein Schatten!“ „Warum Köln?“ Veikko lehnte sich zurück und blickte an die Decke. „Meine Idee zu dieser Sache wird dir nicht gefallen.“ „Sag schon.“ „Andreas Hansen“, war alles was sein Freund ihm antwortete und Ben verstand. „Er hat die Drogen über Helsinki nach Köln gebracht. Du denkst, Kuznetsov könnte das gleiche versuchen?“, fragte er. Veikko löste seinen Blick von der Decke und blickte jetzt in Bens brauen Augen. „Es gibt mehrere Routen. Einige sind der finnischen Polizei bekannt, andere nicht. Fakt ist, dass die meisten dieser Wege von Hansen erschlossen wurden und Fakt ist auch, dass er ab und an auch mit den Russen zusammengearbeitet hat.“
    Ben nickte. Was Veikko erzählte ergab durchaus Sinn. Hansen war eine große Nummer gewesen, geschickt und der Polizei immer einen Schritt voraus. „Denkst du, dass Mikael diese Routen kennt? Ich meine … wir wissen beide, dass er … dass Mikael …“ Er brach ab und ärgerte sich, dass er so unsicher wirkte. Dass ihn dieser Gedanke so aus der Ruhe brachte, während Veikko wirkte, als wäre es das Normalste auf der Welt. Veikko schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn er sie kennen würde, hätte er sie schon längst auffliegen lassen, als er bei der Drogenfahndung war. Seine Vergangenheit mag zwar nicht lupenrein sein, aber als er Polizist war, hat er auch immer als Polizist gehandelt.“

  • Semir legte das Handy wieder auf den Tisch. „Und?“, fragte Antti, der gerade von seinem Brötchen abbiss. „Die Chefin und auch die Staatsanwaltschaft bestehen darauf, dass ich bei diesem Fall mitarbeite.“
    „Scheiße“, war alles, was ihm Antti antworte und doch sprach ihm der finnische Kollege aus der Seele. Er hatte sich gefreut, dass er endlich wieder Zeit mit Andrea und den Kindern verbringen konnte, ohne dass ihm der Job im Nacken saß und nun kamen ihm diese Morde in die Quere. Der Einwand, dass er doch eigentlich bei der Autobahnpolizei war, hatte nicht viel genutzt. „Immerhin bearbeiten wir auch den deutschen Fall“, hatte ihn Kim Krüger Kontra gegeben.
    „Es ist wohl Wunschdenken, zu glauben, dass wir den Fall gelöst haben bis Andrea und die Kinder kommen?“
    Antti lachte. „Mir fehlen die IQ-Boys um dir das versprechen zu können und selbst dann würde es sicherlich nicht hinhauen. Das wäre schon ein Glückstreffer.“
    „Die IQ-Boys?“
    „Mikael und Veikko. Kasper nennt sie immer so.“
    Antti griff nach einem weiteren Brötchen und schnitt es in zwei Hälften. „Manchmal ist es schwer sich vorzustellen, dass sich die drei auf der Polizeiakademie regelrecht an die Gurgel gesprungen sind.“
    Semir nickte, während er an seinem Tee nippte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie Kasper vor ein paar Jahren zur Mordkommission gestoßen war. Ein eingebildeter, von sich selbst überzeugter Kommissar traf es wohl am besten. Inzwischen hatte sich Kasper perfekt in die kleine Chaos-Familie, wie Antti sein Team gerne bezeichnete, eingegliedert. Selbst der Kleidungsstil war von strengen Anzügen zu etwas bequemeren gewechselt. Hatte ihn zu Beginn vor allem durch eine gemeinsame Geschichte etwas mit Veikko verbunden, hielt Kasper sich inzwischen mehr an Mikael. Semir wusste, dass Kasper oft nach Feierabend mit Mikael in irgendeine Kletterhalle fuhr. Insgeheim hoffte der deutsche Kommissar, dass Mikael diese gemeinsamen Unternehmungen mit Kasper halfen, denn er hatte selbst gesehen, wie schnell der junge Kollege dem Abgrund entgegengesteuert war. Semir war sich sicher, dass Mikaels Leben sicherlich in der ein oder anderen Situation noch immer einem Tanz auf dem Drahtseil glich und er noch nicht wieder vollkommen in der Welt angekommen war, wo er sich wohlfühlte, auch wenn er auf einem richtigen Weg schien bei seinem Besuch am gestrigen Tag.


    „Ich hab’s schon von Rautianen gehört. Du sollst uns unterstützen“, empfing Kasper sie, als sie in das Großraumbüro getreten waren. Seit das Polizeipräsidium vor einigen Monaten einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen war, arbeiteten viele Abteilungen noch in notdürftig eingerichteten Büros, wo nicht besonders viel Platz war. „Verbindungsstelle zwischen den beiden Dienststellen“, bestätigte Semir und lehnte sich an die Fensterbank, während Antti sich hinter seinen Schreibtisch setzte.
    „Unser Toter hat inzwischen eine Identität.“ Er sah die beiden erfahrenen Kommissare abwechselnd an und fuhr dann fort: „Juhani Koivisto. Seine Frau hat ihn vor zwei Tagen als vermisst gemeldet.“
    „Ist sie schon informiert worden?“, wollte Antti wissen.
    „Nein. Ich kann das gemeinsam mit Solheim übernehmen, wenn du magst. Vielleicht kann sie uns ja noch weiterhelfen.“
    Antti verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Gut. Übernehmt ihr das. Semir und ich werden Kuznetsovs Arbeitsumgebung einen Besuch abstatten.“ Kasper gab Antti mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er mit dem Vorgehen einverstanden war und erhob sich von seinem Stuhl. Der junge Kommissar griff nach seiner Jacke und war kurz danach aus dem Büro verschwunden.


    „Wo ist dieses Arbeitsviertel“, fragte Semir interessiert, als er wenige Minuten später Antti aus dem Gebäude Richtung Auto folgte. „Du kennst es“, antwortete ihm sein finnischer Kollege nur und der Autobahnpolizist stutzte. So viele Wohngegenden kannte er in Helsinki nun auch nicht, auch wenn er sich inzwischen immer besser in dieser Stadt zurechtfand, wenn er alleine unterwegs war.
    Knapp 30 Minuten später war Semir klar, was Antti gemeint hatte. Er blickte nachdenklich auf das ausgebrannte Gebäude vor ihnen. Es wurde etwa zur gleichen Zeit wie das Präsidium zerstört. Waren aber am Präsidium schon lange die Bagger und Bauarbeiter angerückt, hatte sich hier nichts getan. „Es gibt viele Debatten“, erklärte ihm Antti, „aber viele glauben wohl, dass man dieses Viertel nicht mehr retten kann.“ Semir nickte und sah die Fassaden herauf. In dem Gebäude hatte Mikael lange Zeit gewohnt. Erst mit seinen Eltern und dann alleine. Als er dann mit Eva zusammengezogen war, hatte er die Wohnung in dem Gebäude weiterhin behalten, als kleinen Rückzugsort. Semir fragte sich, ob der junge Kollege wohl seit seiner Rückkehr nach Helsinki hier gewesen war. Auch wenn Mikael es ungern zugab, verband ihn zu diesem kriminellen Viertel doch viel. Viele Leute hier kannten ihn, vertrauten ihm sogar absurderweise, obwohl er Polizist war. Die Augen des deutschen Kommissars scannten die Graffitis an der Häuserwand. Auch wenn er die Worte nicht verstand, glaubte er kaum, dass sie etwas Nettes bedeuten würden. „Was denkst du?“, fragte Semir nach einer Weile.
    „Es gibt einige Viertel, die man schon verloren gegeben hat und heute sind es schicke und hippe Designergegenden.“ Antti drehte sich von dem Gebäude weg. „Aber wir sind wegen anderen Dingen hier … auch wenn ich nicht glaube, dass uns jemand helfen wird.“



    *



    Sie hatten nur zwei Mal klingeln müssen und dann hatte sich die Tür geöffnet. Eine Frau um die 40 blickte sie mit roten verheulten Augen an. Kasper holte tief Luft. Er hasste diese Situationen und doch gehörten sie zu seinem täglichen Brot. „Kasper Kramsu Mordkommission Helsinki, das ist mein Kollege Edvin Solheim. Können wir reinkommen?“ Sie nickte unsicher. „M-Mordkommission?“, flüsterte sie und krallte sich am Türrahmen fest. Kasper warf Solheim einen vielsagenden Blick zu. Der ältere Beamte nahm sein Handy in die Hand und entfernte sich ein paar Schritte von ihm und der Frau.
    „Frau Koivisto, lassen sie uns reingehen“, wiederholte Kasper ein weiteres Mal. Tränen sammelten sich in den Augen der Frau und sie begann zu schluchzen. „Er ist tot, oder? Mein Juhani ist tot?“ Er nickte. „Es tut mir leid, Frau Koivisto. Wir haben ihn am gestrigen Morgen tot aufgefunden, ohne Papiere.“ „A-aber … Sie sind sicher, dass es mein Juhani ist …“ Ihre Hand fuhr vor das Gesicht und sie schrie leise auf. „Oh Gott Juhani … mein Juhani.“
    „Das Notarztteam kommt in ein paar Minuten“, flüsterte ihm Edvin leise zu und er nickte. Behutsam griff er erst nach der Hand der Frau und dann nach ihrem Arm, um sie vorsichtig in Richtung Wohnzimmer zu führen. „Setzen Sie sich erst einmal Frau Koivisto. Mein Kollege holt ihnen ein Wasser.“ Die Frau nickte mechanisch und er ließ sich auf dem Sofa nieder. Sein Blick blieb auf den vielen Fotos an der Wand heften und sein Magen zog sich noch mehr zusammen. Koivisto hatte Kinder. Zwei. Ein Mädchen und einen Jungen, zwölf und 15 Jahre alt. „Sind ihre Kinder in der Schule?“ „Ja … sie-sie kommen erst heute Nachmittag wieder … Oh Gott, wie soll ich ihnen nur sagen … Oh Gott Juhani!“
    „Frau Koivisto, ich weiß es ist nicht der richtige Zeitpunkt, aber wissen Sie ob ihr Mann in kriminelle Geschäfte verwickelt war?“
    Der Kopf der Frau fuhr nach oben. „Wie können Sie so etwas überhaupt fragen“, schrie sie mit schriller Stimme. „Juhani würde niemals! Er war ein ehrlicher Arbeiter!“
    „Bitte, beruhigen Sie sich“, versuchte Kasper mit ruhiger Stimme. „Ich will mich nicht beruhigen! Sie kommen hier her und werfen meinem Mann so etwas vor. Reicht es nicht dass er tot ist? Müssen sie ihn auch noch mit Schmutz besudeln?“
    „Ihr Mann wurde vor einem Jahr gekündigt“, kam es jetzt von einer dritten Stimme. Edvin Solheim war inzwischen mit dem Wasserglas in den Raum getreten. Er stellte es auf dem Tisch. „Haben Sie das nicht bemerkt.“
    „Nein“, schrie Frau Koivisto der Hysterie nahe, „Sie lügen. Das ist nicht wahr. Mein Mann würde mich niemals belügen!“
    „Sie müssen sich beruhigen … bitte … “, versuchte Kasper, wurde jedoch sofort unterbrochen. „Ich will nichts mehr hören! Sie verlassen jetzt auf der Stelle mein Haus!“ Sie zeigte auf die Eingangstür. „Raus. Ich will diese Lügen nicht mehr hören!“
    „Bitte beruhigen Sie sich. Setzen wir uns wieder.“ Kasper versuchte angesichts der Situation so ruhig wie möglich zu wirken.
    „Nein!“ Sie schlug Kasper einmal vor die Brust. „Nein, nein, nein!“, kreischte sie und schlug abermals zu, wieder und wieder traf ihre Faust Kaspers Brustkorb, der den hysterischen Anfall über sich ergehen ließ ohne sich zu wehen. Solheim war auf sie zugestürmt und wollte die Frau von ihm wegziehen, doch er schüttelte den Kopf. „Schau, wo der Notarzt bleibt“, sagte er mit ruhiger Stimme und vernahm kurz darauf ein Nicken seines Kollegen.
    Tränen schossen der Frau in die Augen und schließlich ließ sie schluchzend von ihm ab und sank kraftlos in seine Arme. „Juh … ani … mein Juhani.“ Der blonde Kommissar legte ihr sanft die Hand auf den Rücken, ohne wirklich zu wissen, was er tun sollte. Sein Magen zog sich immer weiter zusammen und ihm war übel. Er hätte sich am liebsten übergeben. Wieso nur hatte er Antti gesagt, dass er das übernehmen würde? Natürlich. Er hatte geglaubt, er würde es durchstehen. Er hatte geglaubt, dass er es endlich schaffen würde Menschen eine Todesnachricht zu überbringen ohne dabei an den Augenblick zu denken, als die Polizei damals vor der Haustür seiner Familie gestanden hat. „Wir müssen ihnen leider mitteilen, dass ihre Tochter ermordet wurde“, hallte es in seinem Kopf wieder und er sah vor seinem inneren Auge, wie sein Vater zusammenbrach. Sein Vater, der stolze und selbstbewusste Richter.


    „Kramsu. Der Rettungsdienst ist da“, holte ihn Solheims Stimme aus den Gedanken und er übergab die Frau in die fachmännischen Hände. Er drückte der Notärztin seine Karte in die Hand. „Bitte sorgen Sie dafür, dass wir verständigt werden, sobald die Frau vernehmungsfähig ist.“ Danach verließ er wortlos das Haus und ging zurück zum Dienstwagen. Er schloss die Augen und holte einige Male tief Luft. Er hoffte, seine Nerven beruhigen zu können. „Du zitterst.“ Seine Lider öffneten sich abrupt und er sah in Solheims Gesicht. Der ältere Kollege lächelte. „Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir. Manchmal, wenn ich Eltern mitteilen muss, dass ihre Kinder an einer Überdosis gestorben sind, dann sehe ich mich und die Situation, wie mir Rautianen mitteilt, dass Pekka nicht mehr da ist. Dass ich meinen Sohn im Drogensumpf verloren habe.“ Er nickte und löste sich von dem Auto. „Danke Edvin“, sagte er leise und zog dann die Fahrertür auf. „Lass uns zurück ins Präsidium fahren. Hier bekommen wir ohnehin nichts mehr aus der Frau raus.“

  • Jennys Blick hob sich als Ben und Veikko am Morgen in das Büro traten. Während Ben mit einem kurzen Morgengruß schnell im Büro verschwunden war, hielt Veikko kurz vor ihrem Schreibtisch an und lächelte. Ein warmes, willkommenes Lächeln, bei dem sie ihm am liebsten sofort um den Hals gefallen wäre. „Morgen Jenny“, begrüßte er sie und wollte gerade über ihre Hand streifen, als von hinten Bonraths Stimme ertönte. „Morgen Veikko! Ihr zwei seit ja heute zur Abwechslung nur 15 Minuten zu spät.“ Der junge Kommissar zog seine Hand zurück und nickte dem älteren Polizisten zu. „Morgen Bonrath.“ Veikkos Blick fiel noch einmal auf Jenny, ehe er weiter ging und die Bürotür hinter sich schloss.
    Jennys Augen folgten jeder von Veikkos Bewegungen. Schwungvoll legte er seine Beine auf die Schreibtischplatte, während er den Stuhl leicht nach hinten kippte. Dann griff er nach einem Tennisball warf ihn gegen die Wand, um ihn dann wieder aufzufangen und das ganze zu wiederholen. Es war ein Tick, den er hatte, wenn er nachdachte. Die Gesichtszüge waren zu einem leichten Schmunzeln verzogen und sie musste lächeln. Sie liebte es, wenn er dann diese Grübchen in seinen Wangen hatte. Überhaupt liebte sie dieses ganze jungenhafte, unkomplizierte und doch so ernsthafte an ihm. Tausend Schmetterlinge tanzten in ihrem Bauch. Das waren die Momente, in denen sie nicht darüber nachdachte, was unausweichlich war. Irgendwann würde Veikko zurück nach Helsinki gehen und noch war nicht sicher, ob sie für das Austauschprojekt genommen würde. Und selbst wenn, es würde ihre Zeit nur auf ein weiteres Jahr verlängern. Was danach folgte, stand in den Sternen. Jenny wusste nicht, ob sie geschaffen war für eine Fernbeziehung. Im Augenblick wollte sie Veikko so nahe wie möglich bei sich haben. Seine Fröhlichkeit und Leichtigkeit aufsaugen, sich mitziehen lassen.
    „Erde an Jenny.“ Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch und erblickte Bonrath, der sich vor ihrem Schreibtisch aufgebaut hatte und ihrem Blick folgte. „Wir müssen auf Streife, es sei denn du möchtest unseren finnischen Kollegen nicht solange unbeaufsichtigt lassen.“
    „Wie?“
    „Ich hab doch gesehen, wie du ihn angeschmachtet hast.“
    Jenny lachte verlegen auf und griff nach ihrer Jacke. „Das ist totaler Blödsinn Bonnie. Wenn ich mit einem Kind eine Beziehung haben will, dann vielleicht, aber ich will schon einen Mann!“
    „Natürlich …“, zog sie der ältere Kollege auf, während er nach dem Autoschlüssel griff und in Richtung Ausgang ging. „Ich warte dann am Auto, bis du dich trennen kannst von diesem Anblick.“




    Ben fing den Tennisball in der Luft auf, als er zum gefühlten hundertsten Mal an seinem Kopf vorbeirauschte. „Es nervt langsam!“
    „Mich nervt, dass wir immer noch nicht die Identität des Toten haben. Was macht eure Technik? Den ganzen Tag schlafen?“
    „Die ist ganz einfach weniger als in Helsinki“, gab Ben seinem jüngeren Kollegen zu verstehen und senkte den Blick wieder auf die Akten, hob ihn dann jedoch wieder. Veikko hatte Recht. Sie hatten keinen Ansatzpunkt ohne die Identität.
    Veikko hob die Beine vom Tisch und der bis vorhin leicht nach hinten gekippte Stuhl fuhr nach vorne. Er stützte die Arme auf den Schreibtisch, legte den Kopf darin und sah Ben an. „Also, wo setzen wir an?“
    Der Braunhaarige zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung … wirklich.“
    Veikko wollte gerade etwas erwidern, als das Telefon im Büro klingelte. Ben hob den Hörer ab und lauschte den Worten am anderen Ende, ehe er schließlich auflegte. „Die Krüger. Sie will uns in ihrem Büro sprechen.“


    Als sie wenig später in das Büro traten, wurden sie vom Kim Krüger mit ernster Miene empfangen. „Die Staatsanwaltschaft ist nicht sehr begeistert über den Ermittlungsstand“, begann sie und sah von einem Hauptkommissar zum anderen.
    „Und? Ich bin nicht begeistert von den Möglichkeiten, die man hier vorfindet. Wenn Frau Staatsanwalt sich darum kümmern würde, dass die Technik gut ausgerüstet und voll besetzt ist, dann hätten wir die Identität schon“, vernahm Ben Veikkos Stimme, die ungewöhnlich scharf und ernst klang. So als hätte man den jugendhaften Kollegen auf dem Weg zum Büro irgendwo ausgetauscht.
    „Herr Lindström. Ich verstehe ja ihren Unmut, aber …“
    „Nichts aber. Es kann nicht sein, dass wir zwei Tage oder vielleicht noch länger warten müssen, ehe wir einen Namen haben. Helsinki hat ihren schon und der Mord ist viel jünger. Das sollte doch der Staatsanwaltschaft zu denken geben“, fuhr der junge Kommissar abermals dazwischen.
    Ben warf seinem Freund einen vielsagenden Blick zu und schüttelte seicht den Kopf. Er schätze wirklich Veikkos ehrliche Art, aber sein Umgang mit Vorgesetzten war oft mehr als harsch. Doch er hatte keine Chance, denn der finnische Kollege begann gerade erst sich in Rage zu reden. „Es kann nicht sein, dass sich das LKA vordrängelt mit einem lächerlichen Fall – so ist zumindest meine Info, die Hartmut mir gestern gesteckt hat. Vielleicht sollten die sich mal informieren, wer Kuznetsov ist. Bis wir den Namen des Opfers haben sind alle Spuren kalt!“
    „Sie sind doch Techniker oder?“, gab Kim Krüger jetzt Konter.
    „Harmut … also ich meine Herr Freund lässt ihn nicht freiwillig in die Nähe seiner Geräte. Das letzte Mal sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen“, mischte sich Ben ein.
    „Es geht hier nicht um Hartmut. Er ist um ehrlich zu sein der einzige Lichtblick, aber er kann nun mal auch nicht zehn Fälle gleichzeitig bearbeiten“, warf Veikko nun ein. „Dafür ist dieses Austauschdings doch da, nicht? Austausch. Mein Beitrag dazu ist, diese Arbeitsweise unter den Abteilungen hat ein Mangelhaft verdient.“
    „Schluss jetzt!“ Kim Krüger hatte sich von ihrem Stuhl erhoben. „Wie gesagt. Ich verstehe Ihren Ärger. Ich werde das so an Frau Schrankmann weiterleiten, wenn sie wollen.“ Ihre Hand fuhr über ihr Kinn. „Ich werde ihre Kritik natürlich etwas höflicher verpacken Herr Lindström.“


    Als sie ein Nicken von Veikko vernahm, setzte sie sich wieder hin. „Warum Sie eigentlich hier sind. Wie Sie sicher wissen ist dieses Austauschprojekt ein gegenseitiges Programm und wir würden es natürlich vorziehen, wenn auch einer unserer Leute aus der Dienststelle Autobahn dann in wenigen Monaten nach Finnland reist. Bisher gab es leider von unserer Dienststelle mit Frau Dorn…“
    „Jenny hat sich beworben?“, fuhr Ben erstaunt dazwischen, verstummte jedoch augenblicklich, als er den Gesichtsausdruck von Kim Krüger wahrnahm. Nach der Diskussion mit Veikko wollte er unmöglich das Fass zum Überlaufen bringen.
    „Mit Frau Dorn hat sich nur eine Beamtin beworben. Da es dort sicherlich auch vornehmlich um Ermittlungsarbeit geht, möchte ich, dass sie beide Frau Dorn von nun an in ihre Ermittlungen einschließen. Sie soll noch etwas Erfahrung sammeln. Wir wollen uns ja schließlich nicht blamieren.“ „Ich denke Jenny ist eine gute Polizistin, sie wird Sie sicherlich nicht blamieren“, erwiderte Veikko und Ben kam nicht umher das Lächeln seines Kollegen zu bemerken.
    Kim Krüger nickte. „Das mag sein, ändert aber nichts an der Tatsache, dass ihr noch die Ermittlungserfahrung fehlt. Also verlasse ich mich auf Sie, dass Frau Dorn noch etwas dazulernt.“
    Die beiden Kommissare nickten im Akkord. Es herrschte einige Sekunden Schweigen. „War’s das dann?“, durchbrach schließlich Veikko die Stille und Kim Krüger nickte. „Ja. Ich werde mit Frau Dorn sprechen, wenn sie wiederkommt und möchte, dass sie dann ab morgen mit Ihnen arbeitet.“


    „So kannst du doch nicht mit der Chefin reden“, entkam es Ben, als sie das Büro verlassen. „Warum?“ „Das fragst du? Ihr diese Sache mit der Technik so vor den Kopf zu werfen.“ „Entschuldigung. Uns wurde doch vorgeworfen, dass wir nicht gut genug gearbeitet haben. Rautianen hat mit solcher Kritik zumindest kein Problem.“
    „Sie ist aber doch nicht Rautianen, der euch fast alles durchgehen lässt!“
    „Jaja. Samthandschuhe. Ich habe es begriffen Ben“, murmelte Veikko neben ihm leise. Fügte nach einer Weile allerdings noch ein kleines „Ich hasse deutsche Kleinkackerei“ an.
    „Du meinst kleinkariert“, korrigierte Ben seinen Kollegen.
    „Wie auch immer … du weißt ja, was ich meine“, zischte Veikko als er sich in seinen Stuhl knallte.


    Ben musterte den Kollegen lange stumm. Er bekam das ungute Gefühl, dass an diesem Fall mehr dran war, als Veikko ihm gegenüber zugeben wollte. Der finnische Kommissar war normalerweise nicht so leicht zu reizen und die Ruhe selbst. Es hatte ihn nie gestört, dass Harmut ab und an dem LKA den Vortritt lassen musste. „Was ist so wichtig an Kuznetsov?“, fragte er schließlich.
    „Wie?“
    „Da ist doch irgendwas.“
    „Dieser Typ ist uns lange genug entkommen. Es wird Zeit, dass man ihn festsetzt!“
    Ben hob seine rechte Augenbraue skeptisch nach oben. „Natürlich. So wird es sein.“
    „Ja. Genau so ist es.“
    Nun lachte der deutsche Autobahnpolizist leise auf. „Veikko, verarschen kann ich mich selbst.“
    „Wir brauchen ein Gehirn, was arbeiten kann“, erwiderte sein Gegenüber.
    „Wie meinst du denn das nun wieder?“
    „Das ich es dir nicht sagen werde. Punkt.“ Veikko senkte demonstrativ den Kopf auf die Akten und tat als würde er angestrengt lesen.
    Ben hingegen verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachte Veikko argwöhnisch. Ein Gehirn was arbeiten kann, es musste also etwas sein, was ihn davon abringen konnte klar zu denken.
    „Was hat Mikael damit zu tun?“, entkam es ihm urplötzlich und er sah wie Veikkos Kopf ertappt hochpreschte. Bens Gedanke war also richtig gewesen. „Was hat Mikael mit Kuznetsov zu tun?“, wiederholte er abermals, diesmal aber mit einem schärferen Unterton.
    „Ben, das bilde …“
    „Nein, nein … genau so ist es doch? Da ist irgendeine Verbindung, über die du mich nicht informiert hast und es hat nicht mit Hansens Drogenrouten zu tun. Sag schon, was hat Mikael mit der Sache zu tun! Ist er in Gefahr!?“ Ben war inzwischen aufgestanden und baute sich vor dem Finnen auf. „Sag schon, Veikko! Ist Mikael in Gefahr!? Weiß er von diesem Fall!?“
    Veikko schluckte. „Zwei Mal Nein“, sagte er dann mit belegter Stimme.
    „Aber?!“ Bens Gesicht war nun nur noch wenige Zentimeter von Veikkos entfernt.
    „Es gibt Hinweise, dass Mikael glaubt, dass Kuznetsov damals der Mörder von dieser Galina war oder ihn zumindest in Auftrag gegeben hat. Du weißt schon dieses Mädchen, das vor seinen Augen vergewaltigt wurde.“
    Ben löste sich von Veikko und ließ sich wieder in das weiche Polster seines Stuhles fallen. „Galina“, murmelte er leise. „Wie kommt ihr darauf?“, richtete er schließlich an Veikko.
    „Ich habe Mikaels PC gecheckt. Er hat Verbindungen zu Kuznetsov gesucht, die mit dieser Galina zusammenhängen. Und wir beide wissen, dass Mikael so etwas nicht aus Spaß macht.“
    „Ihr wollt ihn finden, bevor Mikael davon Wind bekommt?“
    „Ja. Du weiß, was passiert, wenn Mikael erfährt, dass Kuznetsov wieder zugeschlagen hat. Er würde nicht locker lassen und sich vielleicht unnötig in Gefahr bringen, nur damit er diesen Mann endlich bekommt.“


    Ben nickte und griff nach seinem Telefon. „Gut, dann mache ich mal etwas Druck bei Hartmut, dass wir endlich diesen verdammten Namen bekommen!“

  • „Die Frau war total durch den Wind. Wir haben von ihr keine Informationen erhalten können“, berichtete Kasper, der an seinem Schreibtisch gelehnt stand.
    „Sie ist der Meinung, dass ihr Mann nie etwas verbotenes gemacht hat“, fügte Solheim hinzu.
    Antti nickte. „Aber Kuznetsov bringt bekanntlich niemanden aus Spaß um, also grabt ihr Zwei weiter, bis ihr eine Verbindung findet.“ Der junge Kommissar nickte. „Gut. Ich kümmere mich darum, vielleicht kann ich bei der Technik etwas Druck machen, dass wir schnell ein Bewegungsprofil bekommen.“
    „Mach das“, erwiderte Antti.
    „Und bei euch?“ Kasper löste sich von seinem Platz und war zur gegenüberliegenden Wand gelaufen, wo ein Gruppenfoto der Abteilung hing, welches er nun betrachtete.
    „Nichts. Niemand hat etwas gesehen oder gehört“, stöhnte Antti, „hätten wir uns eigentlich sparen können den Ausflug. Es war klar, dass dort alles unter Verschluss bleibt.“
    „Wie ist es, wenn du Mikael hinschickst?“, warf Solheim ein.
    „Nein kommt nicht in Frage!“ Semir sah verwundert auf Kasper. Er hatte damit gerechnet, dass so ein Einwand von Anttis Seite kommen würde, aber nicht von Kasper. Antti schien ebenfalls skeptisch geworden zu sein.
    „Ermittelt er alleine?“, wollte der ältere Kollege mit scharfer Stimme wissen.
    Kasper fuhr zusammen. „Wie? … Nein … also Antti … ich denke nur, dass er noch nicht wieder bereit ist für den Polizeidienst und der Fall Kuznetsov … er ist ja auch etwas persönlich.“
    Antti nickte auf diese Worte. „Er hat Recht Solheim. Es muss ohne Mikael gehen. Gut, dann an die Arbeit. Heute um 16:00 Uhr will ich Ergebnisse haben.“



    Kasper und Solheim nickten und waren aus dem Besprechungsraum verschwunden. Antti war ebenfalls auf dem Weg zur Tür, als Semir ihn zurückhielt. „Antti.“ Der Teamleiter blieb stehen und drehte sich zu Semir um.
    „Ja? Was ist?“
    „Ihr habt da so etwas angedeutet, du und Kapser … wegen Mikael und Kuznetsov. Wie meinte er das … etwas Persönliches?“ Antti seufzte und trat wieder in den Raum, wobei er die Tür hinter sich schloss. „Es ist davon auszugehen, dass Kuznetsov damals Galina auf dem Gewissen hatte. Es gibt DNA-Spuren, die an allen Tatorten zu finden sind, die mit dem Russen in Verbindung stehen. Es war immer der gleiche Mörder, vermutlich einer von seinen Leuten.“
    „Und Mikael weiß das?“
    Antti steckte die Hände in die Hosentaschen und nickte. „Veikko hat vor ein paar Monaten eine Datei auf Mikaels Laptop entdeckt. Sie war verschlüsselt, aber du kennst Veikko. So was hält ihn nicht auf. Mikael hat neben den offiziellen Ermittlungsakten noch selbst eine über Kuznetsov geführt.“
    „Und du hast es nicht für nötig befunden mich auch darüber zu informieren?“, fragte Semir erstaunt nach.
    „Solange Mikael nicht weiß, dass wir ermitteln, wird es kein Problem sein. Ich denke, er hat sich davon entfernt. Du hast doch gesehen, dass es ihm gut ging.“ Der finnische Kommissar setzte sich hin und Semir tat es ihm nach.
    „Und diese Akte von Mikael? Hilft uns die weiter?“, fragte der Deutschtürke.
    Antti schüttelte den Kopf. „Es sind vor allem Theorien zu seinem Vater und Kuznetsov. Weißt du, als Andreas Hansen seine Geschäfte etablierte, war das auch gleichzeitig der Zeitpunkt, wo die Russen kamen.“ Der Blonde lehnte sich zurück. „Hansen hat das genutzt, enge Partnerschaften mit ihnen gehabt, sie aber immer unter sich gehabt. Das hatte sich geändert, nachdem er seinen Tod vorgetäuscht hatte.“
    Semir nickte. „Jetzt konnte er nicht mehr öffentlich agieren.“
    „Genau. Er musste sich zurückhalten und das haben die Russen ausgenutzt, um den Markt ganz von ihm und den Esten zu übernehmen.“
    „Und Mikael denkt, wenn er diese alten Verbindungen knackt, kommt er an Kuznetsov ran?“, fragte Semir.
    „Wahrscheinlich. Aber wie gesagt, bisher ist er nicht weit und ich glaube, dass er nun auch begriffen hat, dass es ihm nichts hilft dieser Sache nachzuhängen und endlich verstanden hat, dass die Klärung dieses Falls ihm noch lange nicht von seinen Dämonen befreit.“



    *



    „Denkst du an die Aufführung im Kindergarten?“, wollte Eva wissen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Ihre Taktik war also dieses Gespräch zu verdrängen und den Alltag aufrecht zu erhalten. Er sah auf seinen Teller und griff nach einer Brotscheibe. „Ja, sicher denke ich daran“, antwortete er monoton. „Um 16:00 Uhr fängt es an und nachher, da gibt es noch ein kleines Büffet für die Eltern. Es wird dir gefallen, Isla und ich haben es vorbereitet“, berichtete seine Frau euphorisch. „Du erinnerst dich doch noch an Isla. Sie war vor ein paar Tagen mal hier, bevor ich mit den Kindern nach Rovaniemi bin.“ Er richtete seinen Blick nach oben und betrachtete Eva, während sie weiter von den Vorbereitungen erzählte. Ihre Augen strahlten warm und liebevoll. Immer wieder lachte sie leise, wenn sie von einer lustigen Sache erzählte, die während der Planung passiert war. Und er? Er war sich nicht sicher, ob er in diesem Augenblick überhaupt annähernd glücklich aussah. Scheiße, warum auch. Er war nicht glücklich. Er wäre am liebsten im Bett geblieben und hätte sich vor der Welt versteckt.
    „Hörst du mir überhaupt zu?“, unterbrach seine Frau plötzlich ihre Erzählung.
    „Natürlich … ja, ich höre dir zu.“
    „Das tust du nicht. Du hattest diesen leeren Blick.“
    „Und deshalb kann ich dir nicht zuhören? Wegen einem leeren Blick?“
    „Ja …“
    Seine Hand fuhr über das Gesicht und er stöhnte auf. „Ich habe jedes langweilige Wort von deiner tollen Friede-Freude-Eierkuchen-Geschichte gehört.“
    „Ich bin also langweilig?“
    Sofort wurde ihm sein Fehler bewusst. Seine sarkastische Note war hier fehl am Platz. „Eva … so …“, begann er, kam jedoch nicht zum Abschluss. „Du hast das genau so gemeint!“
    „Eva …“ Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie zog sie zurück. „Lass mich! Lass mich einfach in Ruhe. Ich habe es satt, dass du mich … nein, dass du uns alle runterziehst.“
    „Es tut mir leid. Ich …“, versuchte er erneut, doch er biss auf Granit. Sie wollte ihm nicht zuhören.
    „Gut, dann eben nicht!“, schrie er wütend, „Dann warten wir halt darauf, dass das alles hier endgültig kaputt geht!“ Eva sah ihn an und ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. „Das denkst du? Dass ohnehin alles vorbei ist?“, schluchzte sie hervor.


    Mikael saß vor ihr und überlegte, was er tun sollte. Er wusste, was er eigentlich tun musste, doch irgendeine durchsichtige Sperre hinderte ihn daran, dass er aufstand und die Frau, die er liebte an sich drückte. Ihr sagte, dass er nur auf sich wütend war. Dass er Angst hatte, verzweifelt war. Dass sie nichts dafür konnte.
    „Papa? Mama?“, ertönte es leise von der Tür und ihre Köpfe fuhren erschrocken herum. Oskari stand dort, hatte seinen Stofftier-Elch fest umklammert und starrte sie an. „Nicht streiten“, murmelte ihr Sohn leise. Mikaels Magen zog sich zusammen. „Wir streiten nicht“, brachte er mit dünner Stimme heraus. Doch es half nichts. Die ersten dicken Tränen kullerten ihrem Sohn über die Wangen. Eva war sofort zu Oskari gegangen und wischte die Tränen sanft mit ihren Fingern weg. „Alles gut, Schatz.“
    Mikael stand wie versteinert da. Sein Puls hämmerte gegen seine Schläfen, sein Herz pochte aufgeregt in seiner Brust.
    Er hatte Angst.
    Angst, weil er verlernt zu haben schien ein guter Vater zu sein. Ein liebevoller Mann.
    Er hatte Angst.
    Angst, weil alles ihm aus der Hand zu gleiten schien.


    „Ich … ich bin joggen“, presste er hervor und verließ anschließend mit dem Familienhund, Tarmo, fluchtartig das Haus und rannte los obwohl er keinen Trainingsanzug und keine Laufschuhe an hatte. Er wollte einfach nur weg, weit weg von der Schuld, die sich in ihm hocharbeitete. Einer neuen Schuld. Der Schuld, dass er nun auch als Familienvater versagt hatte. Er rannte und rannte und erst als sein erschöpfter Körper kurzzeitig ins Schwanken geriet, blieb er stehen. Sein Blick hob sich und er erkannte, wo ihn sein Unterbewusstsein hingeführt hatte. Er stand vor einem Friedhof. Dem Friedhof, wo sein Vater begraben lag. Mit zittrigen Beinen bewegte er sich in Richtung des Grabes, wo der Name Andreas Hansen auf dem Grabstein stand. Der knirschende Kies unter seinen Schuhen war das einzige Geräusch, sonst war es still. Als er am Grab seines Vaters angekommen war, betrachtete er stumm den Grabstein. Irgendwann fiel er auf die Knie und weinte.

  • Veikko drückte auf den Knopf der Fernbedienung und verschloss den silbernen BMW. Sie hatten am Mittag den Namen des Toten erhalten. Janne Niemi. Ein unbeschriebenes Blatt mit Wurzeln in Finnland. Seine Eltern waren vor 20 Jahren nach Deutschland gezogen, waren inzwischen aber wieder zurückgekehrt in die alte Heimat, während ihr Sohn in Köln geblieben war. Niemi war unter zwei Adressen gemeldet und so hatten sie sich getrennt. Er war mit Jenny zu der ersten Adresse gefahren, während Ben sich um die Zweite kümmern wollte.


    Er verschaffte sich kurz einen Überblick, ehe er die richtige Hausnummer gefunden hatte. Schließlich zeigte er auf ein kleines Haus. „Da ist es. Dort müssen wir hin“, teilte er Jenny mit, die nickte und ihm in Richtung des Hauses folgte. Ein kleines Einfamilienhaus mit einem ebenso kleinen Garten, der sich an der Rückseite anschloss, und von dem man, von der Straße aus, nur einen schmalen Streifen Gras sehen konnte. Eine Wäscheleine mit einbetonierten Pfosten stand auf der kleinen Rasenfläche davor. Es war still und nur die Äste der Bäume bewegten sich seicht im Wind. Doch dann erweckte etwas hinter dem Fenster die Aufmerksamkeit des finnischen Kommissars. „Da ist jemand im Haus“, sagte er leise zu Jenny. „Da war ein Schatten am Fenster.“
    „Bist du dir sicher?“
    „Nein, aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein.“ Mit leicht zittrigen Fingern griff er nach seiner Waffe und entsicherte sie. Er sah Jenny mit ernster Miene an. „Du gehst vorne rein, okay?“
    Jenny nickte und verfolgte, wie Veikko leise in den Garten schlich, während sie sich mit ihrem Werkzeug an der Vordertür zu schafften machte.


    Die hintere Tür war alt und die Sicherheitsstandards nicht wirklich aktuell, so dass Veikko keine Probleme hatte in das Haus zu gelangen. Er trat vorsichtig heran und lauschte in die Dunkelheit. Völlige Stille umgab ihn, nur unterbrochen von leisen Atemzügen. Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen und begab sich die Treppe herunter in Richtung Keller.
    Bei jedem weiteren Schritt beschlich ihn ein unangenehmeres Gefühl. Sein Gehirn meldete ihm Gefahr. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, doch dieser funktionierte nicht. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er war für solche beschissenen Situationen nicht geschaffen und noch dazu trug er jetzt die Verantwortung für Jenny mit. Wieso hatte er nicht einfach eine Streife angefordert? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine schweißnassen Hände umklammerten die Waffe. Er bereute es, dass er sich von Jenny getrennt hatte. Was, wenn wirklich jemand im Haus war? Was wenn er bewaffnet war? Es war doch seine Pflicht als dienstälterer Kollege die Entscheidungen für ihr Wohl zu treffen! Es war seine Pflicht gewesen die Geduld zu haben und auf eine Streife zu warten. Der Gedanke, dass dieser Eindringling womöglich der Schlüssel zu Kuznetsov war, hatte ihn unvorsichtig werden lassen.
    Veikkos Gedanken wurden von einem heftigen Schlag unterbrochen, der unerwartet seine Arme traf und ihm die Waffe aus der Hand schleuderte. Für einen kurzen Moment sah er einen Schatten, konnte aber nicht reagieren, denn schon wurde er zwischen Schlüsselbein und Hals gepackt und ihm von hinten die Beine weggezogen. Er landete mit dem Rücken hart auf den Boden und für einen winzigen Moment blieb ihm die Luft weg. Er sah, wie der Mann über ihn hinweg springen wollte, um durch die Kellertür die Flucht zu ergreifen. Doch diesen Gefallen würde er ihm nicht tun und packte nach dem Bein seines Angreifers, worauf dieser ebenfalls zu Boden ging. „Polizei, Sie haben keine Chance“, keuchte er hervor, während er aufstand und sich über den Mann beugte. Dieser lachte nur. „Ich ergebe mich doch keinem kleinen Bullen, wie dir!“
    Der Mann griff nach seinen Schultern und warf ihn mit einem kräftigen Hieb nach hinten, wieder auf den Boden. Den Bruchteil einer Sekunde später war der Typ über ihm. Eine Waffe schwebte über seiner Brust. Seine Waffe. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen, Adrenalin pumpte durch seine Adern. Er zwang sich klar zu denken. Er musste handeln. Verdammt, er hatte diese Situation doch schon hundert Mal durchgespielt bei irgendwelchen dämlichen Seminaren! Und dennoch wollte ihm nicht einfallen, wie er sie richtig und professionell lösen musste. Scheiß auf Professionell, schrie sein Gehirn.
    „Arsch!“ Veikko rammte dem Mann sein Knie brutal in den Bauch. Dieser taumelte zurück und bot ihm so die Möglichkeit, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Sie fiel auf den Boden und verschwand unter der nahestehenden Truhe. „Du kleiner Drecksbulle!“, zischte der Angreifer und griff nach seinem Arm, wirbelte ihn herum. Er knallte hart gegen ein Regal, stöhnte auf und ging zu Boden. Der Mann lächelte. „Es wird Zeit, dass du gehst … Bulle!“ Der Mann riss einen Schraubenzieher von dem Regalbrett. Veikko rollte zur Seite, kämpfte sich wieder auf die Beine. „Du denkst wirklich, ich mache es dir so einfach?“ Sein Angreifer lachte, nutzte die kurze Unaufmerksamkeit des Polizisten und packte dessen Arm, verdrehte ihn hinter seinen Körper und stach den scharfen Schraubenzieher in seine Brust. Im Schock riss Veikko die Augen weit auf. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut drang heraus. „Es war einfacher, als ich gedacht habe“, höhnte der Mann, während er den Schraubenzieher weiter in seine Brust hineindrehte. „Lass dir das eine Lehre sein!“ Eine Hand fuhr quer über sein Gesicht und nur wenig später knallte sein Kopf hart gegen eines der Regalbretter und er ging zu Boden. Das letzte was er wahrnahm war Jennys Stimme, die seinen Namen rief.

  • Als Veikko wieder erwachte, spürte er einen unerträglichen Schmerz in der Brust und ein pfeifendes Geräusch begleitete jeden seiner Atemzüge. Nur zäh arbeiteten seine Gedanken, immer wieder von heftigen Schmerzwellen unterbrochen. Nur langsam arbeitete er sich in seinem Gedächtnis vor und setzte das Geschehene wieder zusammen. Vorsichtig tastete er seine Seite ab. Der Schraubenzieher steckte noch zwischen seinen Rippen. Als er mit den Fingern den Griff berührte, durchzuckten Schmerzen seinen Körper. „Fuck!“, presste er leise hervor.
    Als er einen Schrei von Jenny aus dem Treppenhaus hörte, wollte er sich aufrichten. Seine Hand kam an den Knauf des Schraubenziehers. Der stechende Schmerz lähmte ihn für einen Augenblick, aber er hatte es irgendwie geschafft sich in die stehende Position zu bringen. Er musste Jenny helfen!
    Er schleppte sich weiter, kämpfte mit jedem Schritt gegen die Versuchung, sich wieder fallen zu lassen. Nur der Gedanke an Jenny hielt ihn auf den Beinen. Warum war der Typ nicht durch den Keller geflüchtet? Ihm brannte der Schweiß in den Augen. Er spürte warmes Blut auf seinen Fingern, mit denen er mühselig den Schraubenzieher irgendwie fixierte. Ihm war klar, dass die Spitze seine Lunge verletzt haben musste. Er bekam mit jedem Schritt schlechter Luft, seine Beine zitterten. Er verfluchte sich und seine verdammte Unvorsichtigkeit. Er griff nach dem Eichenholzgeländer von der Treppe, die nach oben führte und kämpfte seinen Körper nach oben. Unbewusst zählte er jede Treppenstufe, die er geschafft hatte. Drei, Vier, Fünf, Sechs … Sein Atem ging immer schwerer und ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Er konnte Jenny schreien hören. „Nehmen Sie die Hände hoch! … Ich will Ihre Hände sehen. Wo ist mein Kollege!“ Er wollte antworten, doch seinem Mund entkam nur ein kleines Flüstern.


    Als er oben angekommen war, hörte er einen Schuss. Alles war für einen Augenblick still, dann rannte jemand weg. Jenny rief seinen Namen, immer und immer wieder. „Ich bin hier“, antwortete er, bezweifelte aber zur gleichen Zeit, dass er laut genug geschrien hatte. Ihn verließen ein für alle Mal die Kräfte, er bekam kaum noch Luft, Ohnmacht drohte sich über ihn zu legen. Er ließ sich zur Seite fallen und blieb regungslos liegen. Dunkelheit breitete sich um ihn aus und er blinzelte, um sich nicht vollkommen zu verlieren. Grüne Nike-Turnschuhe tauchten in seinem Blickfeld auf, wenig später ließ Jenny sich neben ihm fallen. „Oh Gott … Scheiße!“, entkam es ihr mit zittriger Stimme. Sie griff nach dem Schraubenzieher. „Nein … nicht! … Druckausgleich“, presste er leise hervor. Sie sah ihn an und nickte. „Hatte ich vergessen“, sagte sie. Jenny zog ihr Handy heraus und er hörte, wie durch Watte, wie sie einen Notarzt verständigte. Dann steckte sie das Handy wieder ein.
    „Der Notarzt ist unterwegs, Veikko“, sagte sie und griff nach seiner Hand. Er spürte, wie sie zitterte. „Du schaffst es!“
    „Ich war dumm“, nuschelte er leise und unverständlich, als sich erneut Schwärze über seine Sinne legte. „Ich hätte … auf … Verstärkung warten sollen. Geht es dir g-gut?“ Ihr Händedruck verstärkte sich. „Es ist alles gut. Mir geht es gut. Bleib ganz still liegen, gleich sind sie da. Nicht mehr lange.“ Er nickte nur, versuchte ihre Augen zu fixieren, um sich irgendwie von den teuflischen Schmerzen abzulenken. Es wurde immer schwerer. Er spürte, wie Jenny ihm leichte Schläge auf die Wangen gab. „Bitte bleib wach, bitte“, wiederholte sie immer und immer wieder mit zittriger Stimme und er glaubte, dass sie weinte. Er nickte, oder zumindest glaubte er, dass er es tat. Er hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Das Heulen von Sirenen kämpfte sich in sein Bewusstsein und er konnte sehen, wie sich Blaulicht an den Wänden erleuchtete, als der Notarztwagen vor dem Haus stoppte. Alles was danach geschah, bekam er kaum noch mit. Der Arzt beugte sich neben ihn, stellte Fragen, die er nur mit Mühe beantworten konnte. Er war unglaublich erschöpft und als ihn erneute Schwärze umfing, ergab er sich und er glitt in die Ohnmacht.



    *



    „Dir ist langweilig.“ Eva kam auf Mikael zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid, ich bin wohl einfach nicht in der Stimmung“, antwortete er und schüttete den Inhalt seines Sektglases die Kehle herunter. Als er am Mittag von seiner Joggingtour zurückgekehrt war, hatten sie getan, als wäre der Streit am morgen nie passiert. „Versuch doch zumindest Spaß zu haben. Komm ich stell dich Islas Mann vor. Er ist sehr nett und ihr versteht euch sicher!“ Sie griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her. „Eva, ich möchte …“ Er verstummte als er ein bekanntes Gesicht in der Masse der Menschen erkannte. „Eva, wirklich. Ich möchte das jetzt …“, sagte er nun noch etwas energischer, doch es war bereits zu spät.
    „…Hallo Isla, Knud“, durchbrach Eva seine erneute Widerrede und er streckte mechanisch die Hand aus. Der Mann gegenüber von ihm griff danach und schien genau so überrascht wie er, ihn hier zu sehen. „Sag, Mikael, hat es dir gefallen?“, fragte Isla. Er nickte, ohne seinen Blick von Knud zu lösen. Er trug seine Haare nicht mehr lang, sondern kurz. Ein Anzug ließ ihn um einiges älter wirken, als er eigentlich war. Mikael lächelte ihn an, hielt sein Sektglas jedoch fast krampfhaft fest. Kleine Wellen verrieten, dass er zitterte. Irgendwann löste sich Knud und Mikael spürte seine kräftige Hand auf seine Schulter. „Was hältst du davon, wenn wir ein bisschen an die frische Luft gehen, es ist doch ganz schön stickig hier, oder? Unsere beiden Ladies kommen sicherlich auch ohne uns klar.“
    „Geht ruhig raus“, bestätigte Eva. Er wollte etwas erwidern, doch da hatte Knud bereits seinen Arm gepackt und zog ihn durch die Menge.


    Als ihnen kalte Luft entgegenschlug, drehte sich Knud zu ihm um. „Ich habe gehört, du bist jetzt bei der Polizei“, sagte er. „Was geht dich das an?“, erwiderte Mikael mit giftigem Unterton. Der Blonde steckte die Hände in seine Jackentaschen und lächelte. „Du bist ganz schön nachtragend, hat dir das schon einmal jemand gesagt?“
    „Ich, nachtragend?“ Er lachte auf. „Du hast mich mit deinen Kumpels totgeprügelt!“
    „Du stehst hier vor mir, also kann von totprügeln keine Rede sein“, konterte Knud.
    „Weil ein Polizist mich wiederbelebt hat, stehe ich hier. Ihr feigen Schweine habt mich auf der Straße liegen lassen … euch war egal, ob ich draufgehen würde!“
    Knud hob verteidigend die Hände. „Du kennst das Gesetz der Straße. Nur die Stärksten überleben!“ Der Blonde nickte in Richtung des Gebäudes. „Du hast eine tolle Frau.“
    „Wenn du mir drohen willst, würde ich das ganz schnell sein lassen, Knud“, knurrte er, „wenn du Eva nur ein Haar krümmst, oder dich meinen Kindern näherst.“
    „Bleib ruhig! Du und ich sitzen in einem Boot. Wir beide haben das Leben von damals hinter uns gelassen, unsere unrühmliche Vergangenheit.“
    Mikael sah ihn schief an. „Ich glaube kaum, dass du uns zwei vergleichen kannst.“
    „Ach und wieso nicht? Du warst auch nicht die Unschuld vom Lande.“
    „Das kannst du nicht vergleichen!“, wiederholte Mikael nun eindringlicher.
    „Nein? Du denkst du bist unnahbar Häkkinen, aber die letzten Jahre sollten dir gezeigt haben, dass es nicht so ist.“ Knud trat näher an ihn heran. „Ich habe kein Interesse, dass auch meine Karriereleiter schon bei der Hälfte endet, weil mich die Vergangenheit einholt.“
    „Was willst du damit andeuten?“
    „Ach komm! Isla hat mir alles erzählt über dich. Ich hätte fast laut gelacht, als ich gehört habe, dass du einen auf braven Bullen machst.“
    Mikael funkelte sein Gegenüber wütend an. „Und sieht man es noch? Die hübsche Narbe an der Schulter?“, stieß er hämisch aus.
    „Du hast Glück, dass ich dich deshalb nicht angezeigt habe! Deine Polizeikarriere wäre dann nicht einmal in Gang gekommen!“
    Mikael lachte. „Ich brauche kein Glück, ich will es nicht. Ich musste immer kämpfen. Aber das hat mich stark gemacht, das hat aus mir gemacht wer ich bin!“ Er tippte Knud auf die Brust. „Sei froh, dass ich dir damals keine Kugel in dein kaltes Herz geballert habe!“ Seine Augen funkelten vor Wut. „Und jetzt rate ich dir, Knud“, zischte er leise in das Ohr seines alten Freundes, „Halte dich von meiner Familie fern! Man kann dich zwar nicht mehr wegen einer versuchten Vergewaltigung drankriegen, aber es wird kein Problem sein für mich, dein Leben dennoch zu zerstören.“
    „Was willst du damit andeuten, Hansen!“, entgegnete Knud gehässig.
    „Was? Das müsstest du doch am besten wissen, immerhin hast du diese Fähigkeit von mir gerne zu deinen Zwecken genutzt, oder nicht?“
    Knuds Hand preschte nach vorne und er packte ihn an seinem Pullover. „Woher weißt du von meiner Affäre mit der Kindergärtnerin?“
    Mikael lächelte. Ein souveränes Lächeln, das ihm bestätigte, dass er genau das erreicht hatte, was er wollte. Er griff nach Knuds Hand und löste sie von seinem Pullover. „Ich wusste es nicht. Aber danke, dass du es mir auch so sagst. Lass die Finger von meiner Familie. Ich kann dafür sorgen, dass du untergehst!“
    Mikael löste sich von Knud und ging ohne sich noch einmal umzudrehen zurück in den Kindergarten. „Habt ihr euch nett unterhalten?“, wollte Eva wissen. Er nickte nur und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Lass uns nach Hause gehen. Ich habe Kopfschmerzen und mir ist etwas schwindelig“, flüsterte er ihr ins Ohr.
    „Meinst du es geht weg, wenn du dich hier ein bisschen hinsetzt? Oskari hat gerade so viel Spaß“, entgegnete sie leise.
    Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht.“

  • Mikael hob das kleine verschlissene Buch von dem Sessel, setzte sich herein und blätterte in den vergilbten Seiten. Es geht darin um Nunnu, die den Leuten Schlaf und Träume bringt. Doch nun hat sie verschlafen – Professor Prilli wartet auf seinen Nachmittagsschlaf. Und dann ist auch noch ihr Traumwedel verschwunden, denn Nunnu ist nicht die Ordentlichste. Was folgt ist ein Abenteuer, von dem seine Tochter nie genug bekommen konnte. Diesen Kinderbuchklassiker hatte ihm schon seine Mutter vorgelesen und nun las er ihn fast jeden Abend Viivi vor. Er lächelte bei den Gedanken daran, dass seine Tochter sich gar nicht satt sehen konnte an den Bildern und sich jeden Abend wieder darauf freute.
    „Ich habe übrigens Isla und Knud zum Essen eingeladen. In zwei Tagen.“
    Er schreckte hoch. „Hier, bei uns?“
    Eva begann zu lachen. Sie war inzwischen an den Sessel herangetreten und fuhr mit ihrer Hand durch seine schwarzen Haare. „Wo sonst? Meinst du ich lade sie zu meiner Mutter ein?“
    „Und warum sprichst du das nicht mit mir ab?“, fuhr er sie gereizt an und war regelrecht aus dem Sessel hochgesprungen.
    Ihr Lachen verschwand und sie sah ihn ernst an. „Was ist denn plötzlich los mit dir?“
    „Was los ist? Du lädst fremde Leute in mein Haus ein und hältst es nicht einmal für notwendig mich zu fragen!“
    „Ich habe es doch nur nett gemeint, was hast du denn plötzlich? Seit dieser Aufführung bist du total …“ Sie griff nach seiner Hand, doch er schlug sie weg. „Komisch? Ich bin so wie immer!“
    „Nein, du bist gereizt und in dich gekehrt. Fast so, wie vor einigen Monaten in Köln.“
    Ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. „Bitte Mikael … bitte sprich doch nur einmal mit mir“, schluchzte sie hervor. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Sie würde das nicht verstehen. Sie würde nicht verstehen, warum er Knud nicht bei sich haben wollte. Es würde alles zerstören, wenn es nun wieder seine Vergangenheit war, die ihr etwas nahm, woran sie Freude hatte.
    „Ich will einfach keine fremden Menschen in meiner Wohnung haben.“
    „Aber Isla war doch schon hier, hast du verge…“
    „Ich kann nicht vergessen! Es ist alles in meinem Gehirn. Abgespeichert für die Ewigkeit … unausweichlich, unlauslöschlich!“, schrie er wütend und Eva zuckte unter der Härte seiner Stimme zusammen.
    „Das bist doch nicht mehr du“, sagte sie leise und machte ihn damit nur noch wütender.
    Mikael tippte auf seine Brust, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Das ist der Mann, den du geheiratet hast! Du hast keine Mogelpackung genommen, du wusstest, auf wen du dich einlässt! Wenn es dir nicht passt, geh doch, um Gottes willen!“
    „Ist es das was du willst? Alleine in deinem Selbstmitleid baden? Ist es das!?“
    Wütend warf er das Buch auf die Erde, woraufhin einige Seiten rausrissen und sich über den Wohnzimmerboden zerstreuten. „Ja. Vielleicht ist es genau das. Vielleicht gehst du mir mit deiner heilen Welt einfach auf die Nerven! Ich habe eine Information für dich, so etwas wie die heile Welt gibt es nicht!“
    „Hör auf!“, schrie Eva und kniete sich weinend auf den Fußboden. Mit zittrigen Händen griff sie nach den losen Blättern und legte sie wieder in das Buch. „Bitte hör endlich auf“, wiederholte sie leise unter Schluchzern.
    „Ich hasse es. Ich hasse, wie du so tust, als wäre das alles hier das perfekte Leben. Dein kleines perfektes Leben.“ Mikaels Stimmte bebte und ein Kloß bildete sich in seinem Hals. „Aber ich bin nicht perfekt. Ich war es nie!“, hängte er leise an.
    „Du machst alles kaputt!“, brüllte Eva. Sie war aufgestanden und stand nur noch wenige Zentimeter vor ihm. „Du machst alles kaputt, weil du denkst, dass du nicht fähig bist zu so etwas wie Liebe, Nähe, MEINER heilen Welt, aber soll ich dir was sagen. Es ist genau das wonach du dich sehnst. Es ist genau das was dich auszeichnet. Liebe, Herzenswärme, Hingabe!“
    Ihre mit Tränen gefüllten Augen sahen ihn an. „Geh“, sagte sie tonlos, „schwirr ab, verschwinde!“
    Und er folgte ihrem Willen. Wie ein Roboter, der nur den Befehlen folgt, die man ihm gab, drehte er um und verließ das Wohnzimmer. Tarmo, empfing ihn winselnd, als er die Tür öffnete, doch selbst der Hund war nicht fähig seinen aufgewühlten Körper zu beruhigen. Wie in Trance griff er nach seinen Haustürschlüsseln und verließ das Haus, dicht gefolgt von seinem Hund.




    *


    Ben sah durch die Scheibe in das Wartezimmer. Jenny saß auf einem der Stühle und hatte die Knie an ihren Körper gezogen. Sie war bleich, zitterte und starrte auf die Uhr, die gegenüber von ihr an der Wand hing. Als er hineintrat, sah sie kurz auf, vergrub den Kopf dann jedoch wieder in ihren Armen. „Was ist passiert?“, fragte Ben vorsichtig nach und setzte sich neben sie. Seine Hand fuhr auf ihre Schulter und er spürte ihr leichtes Zittern unter seinen Fingerkuppen.
    „Wir konnten doch nicht wissen“, nuschelte Jenny leise hervor und schüttelte energisch den Kopf. „Was, was konntet ihr nicht wissen? Versuch mir jedes Detail zu erzählen.“
    Die junge Beamtin hob den Kopf und sah ihn an. „Wir waren bei der Adresse und dann hat Veikko etwas gesehen. Wir haben uns getrennt und er ist hinten rum rein.“
    Ben nickte. „Und weiter?“
    „Ich weiß nicht. Ich habe plötzlich so ein Rumpeln gehört und dann einen Schrei. Ich habe … Veikkos Namen gerufen, aber er hat nicht geantwortet. Dann war da plötzlich dieser Mann und er hat mich angegriffen. Ich habe auf ihn geschossen.“
    „Hast du ihn getroffen? Ist er vielleicht verletzt?“
    „Ich glaube … vielleicht am Arm“, antworte Jenny mit zittriger Stimme.
    „Was war mit Veikko?“, fragte Ben. Bisher hatte ihm die Krankenschwester nicht viel sagen können. Eine Verletzung an der Lunge. Man operiere noch.
    „Er hat ihm … dieser Angreifer hat Veikko einen Schraubenzieher in die Seite … Oh Gott!“ Neue Tränen bahnten sich ihren Weg. „Ich dachte er stirbt, ich dachte ich würde ihn verlieren.“
    Ben stockte für einen Augenblick der Atem. Er überlegte, ob er Antti anrufen musste, oder zumindest Veikkos Exfrau. Schließlich entschied er sich dazu noch zu warten, bis sie genaueres wussten. Er wollte schließlich keine Pferde scheu machen. Antti lag viel an Veikko und er würde sicherlich verrückt vor Sorge werden.
    „Ich habe versagt“, holte ihn Jennys brüchige Stimme zurück ins Hier und Jetzt.
    „Was erzählst du denn da. Niemand konnte wissen, dass so etwas passiert. Dich trifft keine Schuld.“ Er nahm sie in den Arm und zog ihren zitternden Körper an sich. „Du hast nur die Anweisungen befolgt, die dir ein Kollege mit einem höheren Dienstgrad aufgetragen hat. Dich triff keine Schuld an Veikkos Verletzung.“
    „Er hat … er hat sich die ganze Treppe hochgeschleppt, weil er … weil er dachte, dass dieser Typ mir sonst auch etwas tut.“ Sie schlug die Hände vor den Mund und schüttelte sanft den Kopf. „Er war so blass. Seine Hand war voller Blut.“
    Ben strich ihr behutsam durch die langen Haare. „Es wird in Ordnung kommen, Jenny. Veikko ist zäher als er aussieht. Er wird es schaffen.“ Die junge Polizistin drückte sich an ihn und er spürte, wie ihre Tränen sein T-Shirt durchnässten. Er konnte sich vorstellen, wie es in Jenny aussah. Er hatte selbst in seiner Laufbahn schon die eine oder andere Situation erlebt, wo es brenzlig war und es war nicht so, als würde er sich keine Sorgen machen. Immerhin hatte ein Schraubenzieher seinen Freund in die Lungen getroffen.

  • Kasper stöhnte genervt auf und riss die Seite aus seinem Notizblock. Er kam einfach nicht dahinter. Er konnte keinen neuen, wichtigen Hinweis in den Akten finden, der ihnen weiter helfen konnte. Dieser Fall begann ihm die letzten Nerven zu rauben. Zwei Tote und sie hatten keine Ahnung, wie sie an die Hintermänner der Russenmafia herankommen sollten. Das Klingeln an der Tür unterbrach seine Gedanken. Kasper seufzte, eilte zur Tür und öffnete sie, um dann überraschend festzustellen, dass Mikael davor stand. An seiner Seite saß Tarmo. „Wir haben uns fürchterlich gestritten“, sagte er und mied dabei den Augenkontakt zu ihm. Er zog die Tür weiter auf. „Komm rein.“
    „Du weißt, dass es nicht besonders gesund ist Arbeit mit nach Hause zu nehmen?“ Kasper begann zu lachen. „Das sagt der Richtige!“ „Genau deshalb spreche ich aus Erfahrung.“ Mikael setzte sich auf das Sofa und beobachtete seinen Freund dabei, wie er die Akten zuklappte. Wenig später stand der Blonde auf, ging zum Kühlschrank und kehrte mit zwei Bierflaschen zurück. „Worüber habt ihr euch gestritten?“, fragte Kasper schließlich und reichte ihm eine der Flaschen, nachdem er sie geöffnet hatte. „Ist das von Bedeutung? Wir haben uns einfach gestritten.“
    „Natürlich. Es muss ein schlimmer Streit gewesen sein, wenn du hier bist und nicht bei ihr.“ Mikael sah sein Gegenüber lange an. „Ich war wütend, dass sie jemanden zum Essen eingeladen hat.“
    „Warum?“ „Musst du wirklich jede Kleinigkeit wissen?“ Der Schwarzhaarige nahm eilig ein paar große Schlucke aus seiner Bierflasche. „Komm schon, sag!“ Kasper ließ nicht locker. Er wollte die Wahrheit wissen und würde ihm keine Verschnaufpause gönnen. „Es hat alles mit dieser blöden Aufführung im Kindergarten angefangen.“ „Du hast sie doch wohl nicht vergessen?“ Mikael fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Nein, nein … danach war da dieses Büffet und Eva hat mich zu ihrer neuen tollen Freundin gezerrt und da war er - Knud.“ „Dieser Typ, der dich damals verprügelt hatte?“, fragte Kasper nach und er nickte. „Und was macht sie? Sie lädt ihn zu uns – in mein verdammtes Haus – ein. Hätte ich das zulassen sollen?“ Er wurde immer gereizter, während er seinen Standpunkt zu rechtfertigen versuchte. „Ich meine er hat mich totprügeln wollen und ich kann doch so jemanden nicht in mein Haus lassen. Das kann ich doch nicht zulassen, oder?! Ein Verbrecher in meinem Haus.“ Mikaels Hand knallte auf den Tisch und Kasper zuckte kurz zusammen. „Knud … ich meine, er kann sich doch nicht in MEINE Familie schleichen. Ich will ihn nicht in meinem Leben haben. Ich will diese Scheiße hinter mich lassen!“ Mikaels Hand war inzwischen wieder auf dessen Knie gewandert und zitterte leicht vor Erregung, ehe er nach der Bierflasche griff und sie eilig bis zur Hälfte leerte.
    Kasper nickte. „Hast du ihr erklärt, warum du es nicht willst?“, sagte er nach einer Weile nachdenklich. „Was muss ich ihr da erklären? Wenn ich es nicht möchte, möchte ich es nicht. Es geht niemanden etwas an, wieso und warum!“ „Sie ist die Frau, die du liebst. Natürlich geht sie das etwas an“, widersprach Kasper sofort und fing sich einen gereizten Blick von Mikael ein. „Wenn du ihr erklärst, dass dieser Knud der gleiche Mensch ist, der dich damals verprügelt hat … sie wird es verstehen. Sie wird deinen Einwand verstehen.“ Kasper schloss die Augen und atmete tief durch. Was er jetzt tun würde, tat er nicht gern. Aber er wusste, dass es die einzige Geste war, die Mikael derzeit verstand. Sein Zeige- und Mittelfinger tippten auf sein Herz. „Du betonierst das hier ein und du weißt, wie es enden wird.“ Sein Gegenüber starrte lange auf die Stelle, auf die er getippt hatte. Es war eine Geste, die Joshua immer gemacht hatte und der Gedanke an seinen besten Freund fiel Mikael weiterhin mehr als schwer. „Ich … ich“, murmelte er leise und leerte hastig die restliche Bierflasche. „Scheiße, du hast ja Recht! Ich weiß es doch auch, aber ich … da ist immer noch dieser blöde Gedanke, dass ich alle vor meiner Vergangenheit schützen muss. Dass ihr mich nicht schätzt, wenn ihr davon wisst und …“ „Sie wird es verstehen“, unterbrach Kasper Mikael, ehe er sich noch mehr in Rage reden konnte. Der Schwarzhaarige fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare. „Ich habe sie gefragt, ob sie mich noch liebt. Sie … Eva … ich meine … als ich im Raum war, konnte sie mir nicht antworten. Erst als sie dachte, dass ich schlafen würde, konnte sie es mir sagen.“ Mikael seufzte und blickte ihn dann an. Kasper fühlte sich, wie auf einem heißen Stuhl. Nun war er gezwungen die Wahrheit zu sagen, denn Mikael würde sehen, wenn er lügt. Er würde es an seiner Mimik und Gestik ausmachen könnten. „Ich werde sie verlieren, oder?“, stellte sein Gesprächspartner nun die entscheidende Frage. „Ich werde Eva verlieren und das obwohl sie mich weiterhin liebt. Sie versucht den Alltag zu erhalten, obwohl er nicht mehr vorhanden ist. Wir stumpfen ab … wir-wir …“ „Hör auf!“, fuhr er mit harter Stimme dazwischen und Mikael verstummte. „Was willst du hören? Das es stimmt? Ja verdammt, du wirst sie verlieren, wenn es so weitergeht. Aber es geht nicht so weiter. Wenn es dir wieder besser geht, dann wird Eva das auch merken. Sie wird merken, dass du ihr nichts mehr vorspielst und dann wird alles wieder wie früher.“ „Es wird nie wieder wie früher. Alles ändert sich“, hörte er Mikael leise nuscheln. „Ihr werdet stärker aus dieser Sache kommen, als ihr jetzt seid“, korrigierte sich Kasper. „Das weiß ich. Vertraue mir und höre nur dieses eine Mal auf einen anderen Menschen.“



    Kasper stand auf. „Ich schiebe uns eine Pizza in den Ofen. Zumindest ich habe Hunger.“ Mikael nickte nur und verfolgte, wie Kasper das Wohnzimmer verließ. Sein Blick fiel auf die Mappe und den Block der auf dem Tisch lag. Wie oft hatte es in seinem Wohnzimmer ähnlich ausgesehen. „Du sollst die Fallakten nicht mit nach Hause nehmen“, hatte Eva ihn immer ermahnt. „Was, wenn die Kinder rein sehen?“
    Er griff nach der Akte und öffnete sie. Kasper hatte doch tatsächlich geglaubt, dass er in den wenigen Sekunden als er sie gesehen hatte, nicht lesen konnte, welcher Name darauf stand. Kuznetsov.
    Er nahm das Foto heraus und sah es an. Es war klar, wem dieser Mord zuzuschreiben war. Er kannte diese Handschrift von seiner Zeit bei der Drogenfahndung und bei der Mordkommission. Mikael blättere die Akte langsam durch und überflog die Details. Hinten waren noch einige Notizen aus alten Fällen angehängt. Einiges hatte er sogar noch selbst verfasst, als er im Drogendezernat gearbeitet hatte.
    „Was machst du da?“ Er sah auf und blickte in das Gesicht von Kasper, der an den Türrahmen lehnte. „Kuznetsov hat also wieder zugeschlagen.“ Kasper kam auf ihn zu und nahm die Mappe vom Tisch. „Du solltest dich nicht mit so etwas belasten!“ „Was habt ihr? Gibt es neue Details, um an ihn heranzukommen?“ Mikael sah in Kaspers Augen. Sog jede kleine Veränderung in der Mimik seines Freundes auf. „Mikael, wirklich … ich meine es ernst. Du hast dich doch nicht ohne Grund beurlauben lassen. Lass uns diese Sache erledigen.“ „Aber ich muss das wissen!“, konterte er sofort. Er musste einfach jedes Detail über Kuznetsov erfahren. Jede winzige Information konnte ihn weiterbringen. „Warum?“ „Was, warum?“ „Warum musst du es wissen. Was ist so wichtig an dem Typen?“
    Mikael verschränkte die Arme vor der Brust und lachte leise auf. „Scheiße, ihr wisst es doch schon. Meinst du, ich habe nicht bemerkt, wie ihr hinter mir hergeschnüffelt habt?“ Nun setzte sich Kasper gegenüber von ihm hin und nickte. „Wir sollten vielleicht mit offenen Karten spielen, nicht?“ „Sagt der Richtige!“ Der Blonde schien sich nicht weiter an seinen gereizten Aussagen zu stören. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Du denkst also Kuznetsov hat mit dem Tod von Galina zu tun?“ „Du kennst doch die Akte, es ist offensichtlich! Wie sie gefunden wurde.“ Er erhielt ein Kopfschütteln als Antwort. „Erzähl mir davon.“ „Was?“ „Erzähle mir, woran du dich erinnerst.“ „Das ist doch ewig her, ich war 17“ „Und? Du kannst mir nicht erzählen, dass du es vergessen hast. Gerade du!“ Mikael sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. „Es ist weg seit dem Unfall. Ich erinnere mich nicht.“ „Du lügst. Du hast schon lange keine fehlenden Erinnerungen mehr.“ „Ich möchte nicht darüber reden“, nuschelte der Schwarzhaarige nun leise, doch Kasper würde jetzt nicht mehr nachlassen. „Wir können in dieser Sache nur zusammenarbeiten, wenn wir beide jedes Detail wissen. Keine Halbwahrheiten, keine Geheimnisse.“
    Mikaels Blick löste sich nun wieder von dem Fenster. „Wo soll ich denn anfangen?“ „Wo haben die dich entführt? Vielleicht an der Stelle.“ Kasper war inzwischen aufgestanden und hatte aus der Küche eine Flasche Wasser und zwei Gläser geholt, was vom Sofa argwöhnisch beobachtet wurde. „Vielleicht holst du was Stärkeres.“ „Das ist schon genau passend. Du und Alkohol wart in den letzten Monaten nicht die besten Freunde.“ „Wir waren noch nie besonders gute Freunde“, konterte Mikael sofort. Kasper lächelte, wechselte die Wasserflasche aber dennoch nicht durch etwas anderes aus. „Also wo wurdest du von den Russen entführt?“ „Im Viertel vor einer Kneipe … die gibt es aber heute nicht mehr. Schlag auf den Kopf und ich war sofort weg. Hinterlistige Schweine, sonst hätte ich es ihnen nicht so leicht gemacht!“ Der Blonde nickte. „Und dann?“ „Bin ich in einer Fabrikhalle aufgewacht. Sie sagten, sie bräuchten mich, um zu klären, wer künftig das Sagen hätte in Helsinki.“ „Was war danach?“ Mikael hielt inne. Er wusste die Antwort nicht, denn von diesem Zeitpunkt war alles schwammig. Nicht weil es schon so lange her war, sondern vielmehr aus anderen Gründen. „Das kann ich nicht genau sagen … dieser narbige dickliche Typ, der hat mir irgendwas gespritzt.“ Er wurde zunehmend unsicherer. „Ich … Kasper … ich meine, ich denke … ich glaube, dass Galina irgendwann am zweiten Tag gekommen ist– zumindest hat Häpi mal gesagt, dass die mich eine Woche hatten und dann würde es passen – und sie war nett … glaube ich, zumindest ist es das woran ich mich erinnere, aber vielleicht war es auch anders … ich meine wegen der Drogen und …“
    Kasper hatte gesehen, wie Mikael begonnen hatte zu zittern. „Es ist okay. Ich bin mir sicher, dass vieles von dem wirklich so war. Erinnerst du dich daran, wie sie ermordet wurde?“ Er bekam ein seichtes Nicken als Antwort, doch aus Mikaels Mund kamen keine Worte. „Bitte, du musst mir davon erzählen. Ich will dir helfen diesen Mann zu finden. Aber dafür muss ich es wissen.“ Wieder bekam er ein Nicken. „An einem Morgen, da-da kam dieser narbige Mann rein und er hat einen anderen Mann mitgebracht. Er hat Galina angelächelt und … wirklich Kasper, du musst mir glauben, ich wollte ihr helfen, ich wollte nicht zulassen, dass dieser Mann sie vergewaltigt, aber ehe ich etwas tun konnte … er hatte mir schon die Nadel in den Arm geschoben und ich habe einfach zugesehen … ich habe zugesehen, wie jemand sie … wie er …“ „Es ist okay“, gab ihm Kasper mit starker Stimme zu verstehen. „Erinnerst du dich an diesen Mann. War er maskiert?“ Mikael nickte. „Er hatte eine Maske auf. Ich konnte nur seine Augen sehen, aber er hatte nichts Besonderes an sich.“ „Und danach wurde Galina umgebracht?“ „Ja.“ Dieses eine Wort war alles, was Mikael über die Lippen ging, ehe eine Träne seine Wange runter rollte. „Bitte können wir das lassen. Ich- ich kann das nicht … ich schaffe das nicht.“
    Wir liebend gerne hätte Kasper dem Flehen seines nur wenige Monate jüngeren Kollegen nachgegeben, doch er konnte nicht. Er war gewillt Mikael zu helfen, diese Menschen endlich zu finden, aber das konnte er nur, wenn er die Details kannte und die Akte zu dem Fall gab wenig bis überhaupt nichts her. „Ich weiß, dass es schwer ist, aber nur noch ein paar Fragen. Was hast du danach gemacht? Als sie dich freigelassen haben.“ „Das weißt du doch … ich war bei dieser Wache, die dachten ich wäre ein Junkie und dann stand ich bei euch vor der Polizeiakademie, dachte Josh hilft mir.“ „Joshua, der hat sich dann darum gekümmert?“ „Ja, er hat mich mit zu sich genommen und als ich dann wieder vollkommen klar im Kopf war, da hat er mich seinem Lehrer vorgestellt, der hat sich dann um alles weitere gekümmert.“ Kasper nickte. Von diesem Augenblick kannte er die Geschichte. „Warum glaubst du, dass Kuznetsov damit zu tun hatte?“ „Ihr wurde in den Kopf geschossen, danach ins Herz …“ „… aber nicht in die Knie.“ „Dieses Detail hat er erst wenige Jahre später verwendet, wenn man es denn so sagen kann.“ „Und das alleine lässt dich glauben, dass es Kuznetsov war?“ Mikael schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe manchmal Albträume, wie sie erschossen wird und dann ist da dieser Mann im Hintergrund, der ihm ähnelt.“ „Aber du bist dir nicht sicher? Hast du deshalb nicht mit uns geredet?“ „Sicher, sicher? Ich war vollgepumpt mit Drogen. Was denkst du? Würde nicht ein Foto von ihrer Leiche existieren, wäre ich nicht mal sicher, ob sie überhaupt dort war!“


    Es herrschte einige Minuten Stille, ehe sie von Mikaels Stimme durchbrochen würde. „Er hat wieder zugeschlagen, also Kuznetsov.“ „Ja, es gibt zwei Morde die seine Handschrift tragen … einen in Köln und einen hier in Helsinki.“ Mikael nickte. „Ich kann dir helfen. Ich kann mit jemanden sprechen, der dir Informationen geben kann.“ „Das kommt überhaupt nicht in Frage“, stellte Kasper klar. „Du weißt, dass ich dir Details beschaffen kann, die du niemals bekommen wirst! Du willst Kuznetsov, ich Galinas Mörder. Du hast gerade gesagt, dass wir in dieser Sache zusammenarbeiten können.“ „So meinte ich das doch nicht. Ich meinte, dass wir dann in dem alten Mordfall auch ermitteln könnten.“ Kasper sah in das Gesicht von Mikael und fuhr sich durch seine kurzen Haare. Sicher, Mikael hatte Recht. Er konnte ihm Informationen beschaffen, die er niemals bekommen würde, zumal sein Informant seit einigen Tagen, wie vom Erdboden verschluckt war. Anderseits wollte er seinen Freund nicht in seine Ermittlungen reinziehen. Es war klar in welchem Milieu Mikael sich umhören würde und da gab es nun einmal auch ein paar Leute, die nicht positiv auf ihn zu sprechen waren. Er war immerhin Polizist geworden, ob er Hansens Sohn war, oder nicht, war einigen dieser Leute egal.
    „Woher willst du die Infos bekommen?“ Mikaels Mundwinkel zogen sich leicht nach oben und nun war ihm klar, dass er verloren hatte. Sein Freund würde sich nicht mehr abschütteln lassen in dieser Sache. „Ich könnte Häpi einen Besuch im Gefängnis abstatten. Den bin ich ihm ohnehin noch schuldig. Er weiß sicher an wen ich mich wenden muss.“ „Ist der Typ vertrauenswürdig?“ „Er hat dafür gesorgt, dass ich im Knast nicht wie ein Tier ausbluten musste. Ich denke, das reicht um vertrauenswürdig zu sein.“
    Kapser holte tief Luft. „Und was willst du tun, wenn er dir hilft? Wenn er dir sagen kann, wie du an Kuznetsov herankommst?“
    „Was denkst du?“
    Der Blonde schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein. Es wird keinen Alleingang geben. Dieser Mann ist gefährlich, was, wenn er dich umbringen lässt von einem seiner Handlanger hier in Helsinki.“
    Mikael lächelte. Ein beunruhigendes, überhebliches Lächeln. „Er wird mich nicht umbringen lassen. Er ist selbst in Helsinki. Vielleicht erledigt er es ja selbst und dann …“, Mikaels Faust knallte auf den Tisch, „ … schlagen wir zu!“
    „Wie? Ich meine, was macht dich so sicher, dass er in Helsinki ist?“
    „Weil er nie woanders war. St. Petersburg ist nur ein Deckmantel. Was ist besser als die Polizei glauben zu lassen, dass du nicht in ihrem Land bist? Hat mein Vater auch immer so gemacht.“
    „Es gibt Dokumente, die beweisen, dass er in Russland war. Es gibt V-Leute, die das bestätigen.“
    „Jeder ist käuflich“, war alles, was Mikael darauf erwiderte. „Und genau das ist seine Schwachstelle!“
    „Woher weißt du das alles?“ Kaspers Stimme bebte vor Aufregung. Das würde die Wende in den Ermittlungen bedeuten.
    „Wie gesagt, jeder ist käuflich“, sagte Mikael und lächelte dabei schief.
    „Du hast die ganze Zeit ermittelt? Die ganzen letzten Wochen warst du auf der Jagd nach Kuznetsov?“
    „Was glaubst du? Dieser Mann ist der Grund, warum ich nicht ankommen kann.“
    Kasper seufzte. „Du weißt aber, dass es ein eingebildeter Grund ist? Es ist doch nicht Galina, die dich davon abhält glücklich zu sein. Es ist die Angst zu verlieren, was dir wichtig ist! Und die vernebelt die deinen ganzen Verstand! Hast du den Arzt angerufen, dessen Nummer du wolltest?“



    Mikael ignorierte ihn. Er war aufgestanden und durch das Wohnzimmer gestreift, bis er schließlich in einem der Schränke eine Wodkaflasche fand. Er zog sie hervor und stellte sie auf den Tisch. „Falls du dir ein bisschen Mut antrinken musst, denn ohne dich klappt der Plan nicht“, sagte er und setzte sich dann wieder hin, um Kasper jede Einzelheit zu erzählen, wie er Kuznetsov kriegen wollte.

  • Fortlaufende, monotone, rhythmische Geräusche drangen zu ihm durch. Veikko öffnete die Augen, blinzelte mehrmals, als ein grelles Licht blendete. Wo war er? Er hob seinen Arm und sah zu, wie die verschwommenen Umrisse immer schärfer wurden. Ein Pulsoximeter steckte auf seinem Zeigefinger, ein Kabel ging davon weg und er drehte den Kopf zur Seite. Das Kabel führte zu einem Gerät und einem Infusionsständer. Er war also in einem Krankenhaus. Wieso? Erst jetzt bemerkte er eine Frau, die an seinem Bett stand und etwas in einer Mappe studierte. „Was ist passiert?“, fragte er und war im gleichen Moment erstaunt darüber, wie schwach er war. Sie sah auf und lächelte. „Hallo“, sagte sie mit einer angenehmen, weichen Stimme. „Sie sind im Krankenhaus“, berichtete sie. „Sie wurden bei einem Einsatz verletzt.“ „Einsatz?“, fragte er, doch dann fiel ihm alles wieder ein. Die Zeugenbefragung, der Mann, der ihn angegriffen hatte. Jenny, die an seiner Seite gekniet hatte. „Sie wurden niedergestochen. Ich werde einen Arzt holen, der wird Ihnen alles Weitere erklären, okay? Und ich kann Ihrer Freundin Bescheid geben. Sie war bis vor wenigen Minuten hier … ist kaum von Ihrer Seite gewichen.“ Er nickte und schloss die Augen wieder. Warum nur war er so müde? Er wollte tief einatmen, doch als ein gleisender Schmerz durch seinen Brustkorb zog, ließ er es sofort bleiben.
    Eine tiefe, männliche Stimme holte ihn wieder aus dem Dämmerschlaf. „Ich sehe, Sie sind aufgewacht, Herr Lindström.“ Er öffnete die Augen und verfolgte, wie ein blonder großgewachsener Mann an sein Bett herantrat. „Sie wurden gestern Nachmittag mit einer Stichverletzung eingeliefert. Erinnern Sie sich was passiert ist?“ „Ja“, flüsterte er. Der Arzt nickte und fuhr dann fort. „Der Schraubendreher hat eine Arterie in ihrem Brustkorb verletzt. Wir haben sie operieren müssen. Gleichzeitig haben sie durch die Verletzung der Lunge einen Pneumothorax erlitten.“ Er nickte, obwohl es ihm bereits schwer fiel den Worten des Arztes zu folgen. Er wollte am liebsten wieder die Augen schließen und schlafen. Er war so unheimlich müde und das obwohl er anscheinend lange geschlafen hatte. „Wir haben ihnen eine Drainage gelegt. Sie wird dafür sorgen das Blut und Luft entweichen können. Sie werden noch einige Tage auf der Intensiv zur Beobachtung bleiben, danach werden wir Sie auf die normale Station verlegen.“ Der Arzt lächelte. „Ich sehe schon, Sie sind noch sehr müde … verständlich, Sie haben sehr viel Blut verloren und die Narkose wirkt sicherlich noch etwas nach. Wenn Sie etwas brauchen, zögern Sie nicht den Knopf zu drücken.“ Er nickte wieder und schloss die Augen für einen Augenblick.
    Als seine Lider sich das nächste Mal öffneten, war der Arzt verschwunden und Jenny saß neben seinem Bett. „Hallo Veikko.“ Sie gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. „Ich war nur kurz in der Cafeteria und genau in dem Augenblick entscheidest du dich wach zu werden.“ Jenny griff nach seiner Hand und streichelte sie sanft. „Ich hatte Angst um dich. Dieser Schraubenzieher und …“ „… Es geht mir gut“, unterbrach er sie, „es geht mir gut.“ „Nur ein paar Zentimeter weiter links und du wärst tot …“ Er drückte sanft ihre Hand, so gut es ihm möglich war. „Aber ich bin es nicht … ich bin hier - bei dir.“ Die junge Beamtin lächelte. Sie gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Ja, du bist hier.“ Er lächelte und zog sie mit der rechten Hand wieder an sich heran, als sie sich von ihm lösen wollte. Er gab ihr einen Kuss auf die Lippen. „Siehst du … darauf kommt es doch an“, murmelte er erschöpft.
    Jenny setzte sich auf den Besucherstuhl. „Die Chefin möchte, dass ich mit Ben weiter ermittle.“
    „Das ist doch eine gute Nachricht … oder nicht?“
    Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, nach diesem Zwischenfall. Vielleicht bin ich noch zu unerfahren.“
    Veikko nickte. „Mein Ausbilder in der Technik hat immer gesagt, wenn du keine Erfahrungen sammelst, dann bleibst du für immer unerfahren … und außerdem war es ja meine Schuld und nicht deine. Ich habe den Fehler gemacht … nicht du!“ Veikko schloss die Augen. Er war immer noch so verdammt müde. „Willst du lieber deine Ruhe haben?“, vernahm er Jennys besorgte Stimme und er öffnete die schweren Lider wieder. „Nein … nein. Du solltest doch inzwischen wissen, dass ich von dir … nie genug habe.“





    Ben war sofort ins Krankenhaus gefahren, als man ihm mitgeteilt hatte, dass Veikko wach war. Der Braunhaarige sah durch das kleine Glasfenster der Tür und verfolgte, wie Jenny sich liebevoll um den Kollegen kümmerte. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett und erzählte ihm etwas, während Veikko ihr interessiert zuzuhören schien. Würden die beiden nicht selbst bald zueinander finden, nahm sich Ben vor, würde er dafür sorgen, dass sie miteinander ausgingen. Sie schienen füreinander geschaffen zu sein.
    Er lächelte und öffnete die Tür vorsichtig, um in den Raum zu treten. „Es ist schön, dich so munter zu sehen.“
    Veikkos Blick löste sich von Jenny. „Nur ein Kratzer, Ben … nur ein Kratzer“, nuschelte der Mann im Bett leise. „Ich bin selbst Schuld, ich war unachtsam und habe die Situation falsch eingeschätzt.“
    „Du hast uns echt Angst gemacht“, erwiderte Ben als er ans Bett trat. Veikko sah immer noch blass aus, aber er hatte es sich um einiges schlimmer vorgestellt, als das, was er jetzt vorfand.
    Der junge Finne setzte ein theatralisches Gesicht auf. „Ich hatte es einfach satt, dass in deinen Gedanken immer nur für Mikael Platz ist.“
    „Das ist nicht witzig“, gab Ben ihm mit einem leichten Klaps gegen den Kopf zu verstehen.
    „Auf seine ganz eigene Weise aber schon“, konterte Veikko sofort. „Aber so wichtig scheine ich dir dann auch nicht zu sein … nicht einmal ein Geschenk war ich dir wert.“
    „Du erwartest auch noch Blumen von mir? Wir sind doch kein altes Ehepaar!“, empörte Ben sich und zog eine Fratze.
    „Schokolade … verdammt ich rede von Schokolade. Ich komme um hier. Hast du das Zeug gesehen, was sie einem als Essen andrehen. Scheiße, pfui!“
    Ben lächelte. „Morgen bring ich dir was mit, Schatz!“, sagte Ben mit ernstem Unterton.


    „Habt ihr bereits etwas Neues?“, wollte Veikko dann wissen.
    Ben schüttelte den Kopf. „Nein. In den Wohnungen haben wir nichts gefunden und auch die Überwachung der Drogenszene hat noch nicht viel ergeben. Das finnische Drogendezernat hat wohl einen V-Mann eingeschleust vor einigen Monaten, aber auch der hat noch nichts Neues über Kuznetsov zu berichten.“
    „Und der Typ, der hierfür verantwortlich ist?“
    „Meine Aussage war nicht besonders präzise“, kam es leise von der Seite und die beiden Kommissare sahen Jenny an.
    „Das ist normal, mach dir keine Gedanken. Wenn man in so einer stressigen Situation ist“, setzte Veikko vorsichtig an. Sie nickte. „Vielleicht.“
    Bens Blick fiel zurück auf Veikko. „Konntest du ihn denn erkennen?“
    Der Finne lachte leise auf, verzog dann jedoch das Gesicht vor Schmerzen. „Scheiße“, stöhnte er leise und schloss für einen Moment die Augen.
    „Geht’s? Soll ich einen Arzt holen“, fragte Jenny besorgt, doch Veikko schüttelte den Kopf. „Nein … alles gut … bin nur an den Schlauch … alles gut.“
    „Ich konnte ihn nicht besonders gut erkennen. Bring mir ein Tablet und ich versuche ein Phantombild. Aber ich bin nicht Mikael, ich habe kein fotografisches Gedächtnis, also erwarte nicht zu viel.“
    „Gut, bringe ich dir später vorbei“, versicherte Ben.
    „Hast du Antti schon informiert?“
    Der deutsche Kommissar schüttelte den Kopf. „Nein. Ich dachte, ich warte erst, bis ich mehr weiß.“
    „Danke … er hätte sich sonst sicherlich eh verrückt gemacht.“
    „Vermutlich.“
    „Bring mir mein Handy mit. Dann mache ich es gleich selbst. Es ist sicherlich glaubwürdiger, wenn ich ihm versichere, dass es mir gut geht.“
    Ben nickte. „Okay, kümmere ich mich drum. Tablet und Handy also.“
    „Und Schokolade“, ergänzte Veikko.
    „Jaja und Schoki für mein meinen Schatz.“
    „Ich danke dir Mäuschen!“, kam es aus dem Bett und Ben musste lachen. „Jaja … ist ja gut. Nicht vor der Kollegin. Sonst entstehen noch Gerüchte!“

  • „Was ist los?“ Antti fuhr hoch und sah Semir an, der ihn kritisch musterte.
    „Hmm?“
    „Du hast besorgt ausgesehen und in Gedanken.“
    „Ich frage mich, was die bereden.“
    Semir drehte seinen Kopf in die Richtung, in die Antti sah. An das provisorische Großraumbüro grenzte ein kleines Zimmer, wo der Chef der Mordkommission – Ville Rautinanen – sein Reich hatte. Kasper saß vor Rautianens Schreibtisch und schien ihm etwas zu erörtern. Der rundliche Mann Mitte 50 hatte die Stirn in Falten gelegt und fuhr sich mit der Hand über das Kinn. Ab und an nickte er, doch sprechen tat er wenig, das übernahm vorwiegend Kasper.
    Antti stand auf. „Ich will jetzt wissen, worüber die schon 40 Minuten reden!“ Semir wollte seinen Freund gerade zurückhalten, da klingelte das Handy des Finnen und hielt ihn so davon ab weiterzugehen.
    „Kyllä, komisario Antti Heikkinen. Helsingin rikospoliisista.“ Semir konnte sehen, wie sich Anttis Gesichtsausdruck während des Gespräches verhärtete. Der Ärger über das Gespräch, welches Kasper ohne ihn mit dem Chef führte, war verflogen. „Mitä on tapahtunut?/Was ist passiert?“ Die Stimme des finnischen Kommissars klang nun seltsam dünn und zittrig. Semir versuchte auszumachen, ob er die Stimme am anderen Ende der Leitung kannte. Vielleicht war es Eva. Vielleicht war etwas mit Mikael passiert? Angst kämpfte sich in ihm hoch. Konnte er wieder versucht haben sich das Leben zu nehmen? Vielleicht war das, was er ihm und Antti vor ein paar Tagen preisgegeben hatte nur Fassade gewesen? Mikael konnte das. Mikael war dazu in der Lage jemandem etwas vorzuspielen. Als die Stimme etwas lauter wurde, stellte er allerdings zu seiner Erleichterung fest, dass sie überhaupt nicht weiblich klang. Das Gespräch dauerte einige Minuten, dann legte Antti auf und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er atmete tief durch und fuhr sich mit den Händen über sein Gesicht.
    „Wer war das?“, fragte Semir nun nach.
    „Veikko.“
    „Es ist aber nichts mit Ben … ich meine, du hast geklungen, als wäre etwas Schlimmes passiert und …“ Semir brach ab, als er ein vehementes Kopfschütteln vernahm.
    „Nein. Es geht um Veikko selbst. Er wurde gestern bei einem Einsatz verletzt, an der Lunge … er sagt, es wäre nichts Ernstes. Er wollte nur, dass ich es von ihm erfahre.“
    „Bei einem Einsatz?“
    „Nur eine Überprüfung einer Wohnung des Toten so viel ich verstanden habe. Er war unvorsichtig, wollte nicht auf Verstärkung warten.“
    Semir nickte. „Wegen der Sache mit Mikael, nehme ich an? Weil ihr euch so darin verrannt habt diesen Mann zu bekommen.“
    „Ich möchte nur, dass mein Freund wieder glücklich sein kann. Ist das so verkehrt?“
    „Nein natürlich nicht“, antwortete Semir ihm. Er würde sicherlich genau das gleiche für Ben tun.


    Die Tür zum Büro des Chefs öffnete sich und Kasper trat heraus, ging allerdings nicht in Richtung seines Platzes, sondern in Richtung Flur. „Wo willst du hin?“, rief Antti ihm hinterher. „Ich habe einen Termin, Privat. Es ist mit Rautianen abgesprochen.“
    „Ist was passiert? Mit deinen Eltern?“
    Kasper lächelte, sah aber zu Boden. „Nein, es ist alles in Ordnung … alles ist gut.“
    „Wo musst du denn dann so dringend hin?“
    Der junge Kommissar zuckte mit den Schultern. „Zum Zahnarzt. Ist mir erst heute morgen wieder eingefallen.“
    Die Skepsis war nicht aus Anttis Gesicht gewichen, aber der erfahrenere Polizist sagte nun auch nichts mehr darauf und verfolgte, wie Kasper das Büro verließ. „Hättest du ihm das mit Veikko nicht mitteilen müssen?“, fragte Semir.
    „Wie?“
    „Die Sache mit Veikko, ob du ihm das nicht hättest sagen sollen?“, wiederholte der deutsche Polizist ein weiteres Mal.“
    „Das habe ich vergessen.“ Antti fuhr sich mit der Hand über das Kinn. „Da stimmt doch was nicht, der fährt doch niemals zum Zahnarzt. Er hatte doch erst vor ein paar Tagen einen Termin.“
    Semir lächelte und schüttelte den Kopf. „Nun hör auf dir um deinen Haufen von jungen Wilden Sorgen zu machen! Ich bin mir sicher, dass Kasper dich niemals belügen würde.“
    „Jung und wild trifft es ausgezeichnet!“, erwiderte Antti und lachte laut auf. „Ich warte noch auf den Tag, an dem ich keine Probleme mit denen habe.“
    „Aber missen möchtest du sicherlich dennoch niemanden von ihnen.“
    „Nein. Jeder für sich ist wertvoll für mein Team!“, bestätigte der Finne.



    *


    Mikael schaltete den Motor aus. Bevor er ausstieg, leerte er seine Taschen und ließ alles, einschließlich seines Handys, im Auto zurück. Nur seinen Ausweis steckte er ein. Alles andere wäre im Besucherraum ohnehin nicht erlaubt und er hatte keine Lust, dass sich die lästigen Sicherheitskontrollen unnötig in die Länge zogen. Es dauerte dennoch fast 30 Minuten, bis er das Prozedere hinter sich gebracht hatte und an dem kleinen Tisch im Besucherraum saß. Die Luft fühlte sich schwerer an. Er kannte diesen Raum bisher nur als Gefangener. Als er damals unter Mordverdacht geraten war, hatte er hier gesessen und mit seiner Frau geredet, nun war er es, der einem Menschen im Gefängnis einige Minuten seiner Zeit schenkte. Es dauerte nur wenige Minuten, ehe ein stämmiger Mann mit einem von tiefen Narben gezeichneten Gesicht durch die Tür trat. Er setzte sich ihm gegenüber und lächelte.
    „Mit jedem hätte ich gerechnet, nur nicht mit dir.“
    „Nun, ich habe mich nie bedankt, Akseli. Du hast mir damals das Leben gerettet.“
    „Hätte ich darauf warten sollen, dass sie dich abstechen?“ Akseli Häpi zog die Augenbraue hoch und betrachtete ihn amüsiert. „Viele hätten es getan, oder nicht? Ein Bulle mehr oder weniger, was macht das schon.“ Sein Gegenüber lächelte. „Du bist der Sohn von einem meiner engsten Freunde. Nie würde ich zulassen, dass dir etwas passiert. Es ist eine Frage der Ehre.“ Mikael nickte und beugte sich nach vorne. „Hast du mich deshalb damals von den Russen freigekauft?“ Häpi schien über seine Frage überrascht. „Wie kommst du darauf, dass ich der Grund war, warum sie dich gehen lassen haben?“ Er zuckte mit den Schultern. „Im Grunde ist es einfach, Akseli. Ich hatte damals niemanden außer dir.“ „Du hattest deinen Großvater, übrigens mein Beileid. Ich habe davon gehört.“ Er nickte nur. „Wir beide wissen, dass ich ihm egal war. Was war es? Was wollten sie?“ „Eine Lieferung vom besten, reinsten Stoff und die Garantie, dass ich nicht mehr außerhalb von Helsinki expandiere.“ Mikael nickte. „Da war ein Mann mit einer großen Narbe unter dem rechten Auge. Blaugraue Augen, buschige Augenbrauen. Ihm fehlte der kleine Finger. Wer ist der Mann? Mit wem macht er Geschäfte?“ Häpi verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Ich werde dir nichts sagen, Junge. Diese Menschen sind gefährlich. Ich rette dich doch nicht, damit du ihnen wieder in die Arme läufst.“ „Inzwischen bin ich erwachsen“, konterte er. „Und Polizist“, fügte Häpi hinzu, „was dich noch gefährlicher macht.“ „Im Augenblick bin ich kein Polizist und vielleicht werde ich auch nie wieder einer.“ „Nun, du überrascht mich heute schon zum zweiten Mal.“ „Das Dritte. Du hast auch nicht mit meinem Besuch gerechnet.“ Häpi lachte auf, als hätte er einen guten Witz erzählt. „Warum bist du kein Polizist mehr? Was ist in den letzten Monaten passiert?“ „Viel, es ist viel passiert. Diese Welt, die kann einen kaputt machen“, sagte er nur, führte es aber nicht weiter aus. Er selbst konnte mit seinem totalen psychischen Zusammenbruch vor acht Monaten zwar inzwischen gut umgehen, doch er war bei weitem nicht bereit diese Gedanken auch mit jemandem zu teilen, den er nicht zu seinem engeren Freundeskreis zählte. Häpi war ein alter Freund seines Vaters, einem Drogenboss, mehr nicht. Zumindest war es das, was er sich einzureden versuchte. Akseli Häpi war mehr als das. Er hatte sich um ihn gekümmert, als sein Vater seinen Tod vorgetäuscht und ihn zurückgelassen hatte. Verdammt, dieser Mann hatte ihn aus den Händen von kaltblütigen Russen befreit.
    „Ist dir bewusst, dass die Russen Estland wieder verdrängen?“, durchbrach Häpis Stimme seine Gedanken. Er sah auf. „Wie?“ „Drogen, ich rede von Drogen. Die Esten bekommen Druck aus St. Petersburg. Wenn die Russen wieder das Sagen haben, bekommen wir eine Explosion im Drogenmarkt. Sie werden die Preise versauen.“ Er sah sein Gegenüber perplex an. „Dir ist klar, dass du gerade mit einem Polizisten…“ „Du sagtest, du bist kein Polizist.“ „Ich bin beurlaubt, bis ich mich entschieden habe“, sagte er nun. Häpi nickte. „Dann hättest du das so sagen sollen.“ „Ich sagte wortwörtlich: Im Augenblick bin ich kein Polizist, die Betonung lag auf im Augenblick.“ Der stämmige Finne zuckte mit den Schultern. „Ich rede ja nicht davon, dass ich die Drogen verkaufe. Ich sagte nur, dass die Russen bald den Markt kaputt machen werden.“ „Nun, wir beide wissen, dass du die Geschäfte von Vater nicht aufgegeben hast.“ Häpi lächelte auf seinen Kommentar, sagte jedoch nichts. „St. Petersburg will Helsinki als wichtige Durchgangsroute nutzen. Du weißt schon, die Route deines Vaters.“ „Köln“, murmelte er in Gedanken und sein Gegenüber nickte. Mikael verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und schaukelte den Stuhl leicht nach hinten. „Woher hast du diese Informationen?“ „Spielt das eine Rolle?“ „Alles spielt eine Rolle, Häpi.“ Sein Gegenüber lachte leise auf. „Ich dachte du bist wegen einem Mord hier?“ „Und du erzählst mir von der Russenmafia und Drogen … es gibt also einen Zusammenhang. Lass uns aufhören zu spielen.“ Er ließ den Stuhl wieder nach vorne fallen und beugte sich über den Tisch. „Wer hat Galina umgebracht?“ „Ich habe es dir damals nicht gesagt, ich werde es dir heute nicht sagen. Du jagst einen gefährlichen Gegner“, wiederholte Häpi abermals. „Ich weiß, dass es Kuznetsov ist“, berichtete Mikael mit fester Stimme und lächelte, als er merkte, wie der Drogenboss gegenüber von ihm, bei seiner Aussage für einen Augenblick die Kontrolle über seinen sonst so emotionslosen Gesichtsausdruck verlor. „Rede keinen Unsinn. Ihm fehlt nicht der kleine Finger.“ „Aber er hat es in Auftrag gegeben, oder nicht? Es passt in sein Täterprofil.“ „Täterprofil, wie sich das anhört. Jeder kennt seine Vorgehensweise. Es ist nicht schwer Leute nachzuahmen.“ „Damals war er eine kleine Nummer. Nachdem Papa unterge…“ „…du hast ihm verziehen?“ Mikael zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie?“ „Deinem Vater. Du hast ihm verziehen. Du nennst ihn nicht mehr Hansen.“ „Wie dem auch sei. Nachdem Papa untergetaucht ist, da hat es doch eine regelrechte Rangelei um die Nachfolge in Helsinki gegeben. Jeder wollte seinen Platz einnehmen. Jeder musste sich beweisen.“


    Akseli Häpi betrachtete ihn lange und aufmerksam. „Du willst das wirklich unbedingt wissen. Du gibst nicht Ruhe, ehe du Galinas Mörder gefunden hast.“ Mikael atmete tief durch. Er wollte diese Karte nicht spielen, aber es schien ihm die einzige Möglichkeit, damit Häpi ihn nicht als Polizisten sah. „Ich hatte einen Zusammenbruch Akseli. Ich wäre schon viel früher gekommen, hätte dich besucht, aber die Wahrheit ist, ich habe es nicht geschafft.“ Der Mann gegenüber verlor ein weiteres Mal die Kontrolle über seine Gesichtszüge und diesmal meinte er sogar so etwas wie echte Sorge zu erkennen. „Weil sie dir diesen Mord anhängen wollten?“ „Nein … es ist komplizierter. Es hat mit Freundschaft und Schuld zu tun. Ich habe viel falsch gemacht, habe mich überschätzt und Freunde verloren. Ich bin nicht fähig Leute in meinem Leben zu halten, die mein Leben sind.“ „Du redest von Joshua.“ Häpis Stimme klang nun ungewöhnlich weich. „Ja … ich vermisse ihn. Ich vermisse seine Ratschläge, sein Lachen … ach verdammt, es klingt kitschig.“ „Ich denke, ich weiß, was du meinst. Manchmal, da vermisse ich deinen Vater. Wir waren nicht so dicke Freunde, wie du und Joshua, aber ich denke, man kann es vergleichen.“ Er nickte leicht. „Akseli, ich muss ihren Mörder finden. Ich muss es einfach, damit ich von diesem Albtraum erlöst werde, der mich Nacht für Nacht wieder einholt. Ohne diese Sache geklärt zu haben, setzte ich keinen Fuß mehr auf den Boden. Es holt mich ein und ich habe Angst, dass bald auch die anderen Träume zurückkommen. Bitte, wenn du mich nur ein bisschen wie meinen Dad schätzt, dann hilf mir. Hilf mir den Mörder von Galina zu finden.“


    Häpi legte den Kopf schief und fuhr sich mit der Hand durch seinen Stoppelbart.
    „Sagt dir Oscar Mäenpää etwas?”
    „Er hat diese Bar. Das Katamaran.“
    Häpi nickte. „Was ich dir jetzt sage, ich hoffe du weißt, dass mein Name niemals in den Unterlagen auftauchen darf. Ich habe einen Ruf.“
    Mikael lachte leise. „Ach komm, dir wäre es doch ganz Recht, wenn Kuznetsov nicht mehr auf der Straße wäre. Besser für das Geschäft allemal, so läuft es doch in der Drogenszene. Ist einer weg, übernimmt ein anderer den Platz.“
    „Aber ich bin doch nicht mehr im Drogengeschäft“, winkte Häpi ab.
    „Jaja, dein Name wird nirgendwo auftauchen“, lenkte Mikael nun ein.
    Sein Gegenüber lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Kuznetsov ist schon seit Jahren in Helsinki, Junge. Niemals war er in St. Petersburg. Ihr Bullen ihr seid einfach nur zu dumm, um das auch zu merken.“
    Er lehnte sich näher an Häpi heran und riss die Augen auf. „Du redest Scheiß. Das wäre mir nicht entgangen!“
    „Du bist vielleicht nicht so schlau, wie du denkst Mikael“, gab ihm Häpi mit einem hämischen Unterton Konter und Mikael ließ ihn gewähren. Häpi und ihn verband zwar irgendetwas, aber das hieß noch lange nicht, dass er nicht bereit war mit dem alten Geschäftspartner seines Vaters zu spielen. Er war sich sicher, dass er redseliger war, wenn er ihm verheimlichte, dass er schon lange wusste, dass Kuznetsov in Helsinki war.
    „Wo ist der Kerl. Sag schon, wo finde ich ihn. Im Katamaran? Ist er dort?“
    „Nein. Aber du wirst ihn dort aufscheuchen können. Sein Wachhund hat sein Büro im Hinterzimmer. Mach dort Wind und man bringt dich zu Kuznetsov.“

  • „Und?“ Ben saß nervös vor Veikkos Bett, während dieser mit dem Tablet herumhantierte.
    „Was und?“
    Ben schüttelte den Kopf und lachte. „Na, ob du schon ein brauchbares Phantombild zeichnen konntest, was sonst?“
    Der Finne reichte ihm das Gerät. „Nicht wirklich. Ich glaube nicht, dass man es gebrauchen kann. Mir fallen einige wichtige Kleinigkeiten nicht ein.“ Ben nickte und warf einen Blick auf das Bild, welches ihm Veikko zusammengestellt hatte. „Du hast Recht, wirklich markante Gesichtszüge hat er nicht“, bestätigte er enttäuscht. „Seid ihr sonst weitergekommen?“, wollte Veikko jetzt wissen.
    Ben zuckte mit den Schultern. „Ganz ehrlich. Die letzten Stunden hast du uns voll auf Trab gehalten, da habe ich jetzt nicht so viel am Fall arbeiten können.“ Der deutsche Kommissar stützte seine Ellenbogen auf die Knie und bettete den Kopf darauf. „Bei der Adresse, wo ich gestern war, gab es zumindest keinen Hinweis. Niemi war ein ziemlich aufgeräumter Typ, alles stand feinsäuberlich in den Regalen …“
    „Moment, sag das noch einmal“, unterbrach Veikko ihn.
    „Dass er ein aufgeräumter Typ war?“
    Der junge Kollege nickte aufgeregt aus dem Krankenbett. „Da stimmt was nicht. Die Wohnung, wo Jenny und ich waren … zumindest der Keller. Der war nicht sehr sauber.“ Ben nickte nachdenklich und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Hat eigentlich jemand meine Waffe eingesammelt?“
    „Deine Waffe?“
    „Ich hatte sie beim Kampf mit dem Kerl verloren, sie ist unter so eine Truhe im Keller gerutscht.“ Veikko stöhnte auf. „Scheiße, wenn die nun weg ist!“ Ben bemerkte ein leichtes Zittern von Veikkos rechter Hand, die sich fest in die Bettdecke krallte. Er konnte sich vorstellen, was in seinem einige Jahre jüngeren Kollegen vorging. Falls jemand die Waffe wegen seiner Unvorsichtig in den Händen hielt und jemanden erschoss. Dieses Szenario wollte sich auch Ben nicht vorstellen.


    Ben lächelte. „Ich werde später hinfahren und sehe nach, okay?“ Veikkos Mundwinkel zogen sich etwas nach oben und er ließ den Kopf in das Kissen sinken. „Das wäre super“, sagte er leise, „nimm aber bloß jemanden mit. Nicht das du auch noch einen Spa-Urlaub im Krankenhaus spendiert bekommst.“ Der Kommissar mit den brauen Wuschelhaaren lachte. „Ich bin doch kein Anfänger wie du, ich lasse mich nicht so leicht überrumpeln“, zog er Veikko auf, der nur mit der Hand abwinkte. „Haha, wirklich witzig“, murmelte Veikko leise und schloss dann die Augen.


    Ben stand leise auf und griff nach seiner Jacke. Er konnte sich vorstellen, dass die letzten Stunden für seinen Kollegen schon anstrengend genug waren, da sollte er ruhig etwas erholsamen Schlaf bekommen. „Vergiss … die Schokolade nicht“, ertönte es leise hinter ihm, als er die Tür zum Krankenzimmer gerade geöffnet hatte und er schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. „Keine Angst, Schatz, ich lass dich hier nicht bei trocken Brot und Wasser versauern“, antwortete er und verschwand dann aus dem Zimmer.




    Ben sah sich in der Wohnung um. Veikko hatte Recht gehabt. Diese Unterkunft von Niemi wirkte nicht so aufgeräumt, wie die andere. Sie wirkte viel mehr verlassen und er würde glauben, dass kein Mensch darin wohnte, wenn ihm nicht eine Nachbarin vor weniger als fünf Minuten versichert hatte, dass sie Janne Niemi hier mehrmals die Woche gesehen hatte.
    Eine hölzerne Treppe führte in den Keller hinab. Eine einfache Glühbirne ohne Schirm baumelte an einem grauen Elektrokabel von der Decke. Anders als am gestrigen Tag, als Jenny und Veikko hier waren, ging der Lichtschalter problemlos als Ben ihn betätigte. Die Wände waren weiß gestrichen, an der Decke hingen einige Spinnennetze. Ben durchkämmte mit seinen Augen die Räumlichkeiten, bis er eine alte Holztruhe entdeckte. Von der musste Veikko gesprochen haben. Er griff in seine hintere Hosentasche und zog eine kleine Taschenlampe heraus, die er zur Sicherheit aus dem Auto mitbekommen hatte. Danach kniete er sich hin und warf einen Blick unter die Truhe. Ganz hinten an der Wand konnte er Veikkos Waffe erkennen. Er versuchte zunächst mit dem Arm heranzukommen, doch es stellt sich heraus, dass der Zwischenraum zu schmal war, als das er bis hinten kommen würde. Also stand er wieder auf und zog mit Mühe die schwere Holztruhe aus der Ecke, bis der Abstand endlich so groß war und er an die Waffe kam. Ben sicherte sie und steckte sie anschließend hinten in seinen Hosenbund. Sein Blick fiel auf die im fahlen Licht der Glühlampe glänzenden Blutstropfen am Boden. Veikkos Blut. Er folgte der Spur nach oben bis zum Ende der Treppe. Dort war die kleine Blutpfütze, die die Verletzung hinterlassen hatte, als die Kräfte seines Kollegen endgültig versagt hatten, zwar schon weggewischt worden, ließ sich aber immer noch auf dem Parkettboden erahnen.


    Ben schluckte. Er wusste, dass es verdammt knapp war für Veikko. Er hatte viel Glück gehabt, dass der Schraubendreher ihn nicht wenige Zentimeter weiter oben erwischt hatte. Er hielt einen Moment inne und spitzte die Ohren. War das ein Geräusch gewesen? Ben hielt den Atem an. Schritte knarrten ein Stockwerk über ihm. Reglos blieb er in seiner gehockten Position. Du hättest auf Veikko hören sollen, dachte er bei sich. Natürlich hatte er es nicht getan und war ohne einen zweiten Kollegen hierher gefahren.



    *


    Als Mikael nach Hause kam, war es bereits Dunkel. Er ging zu Viivi hinein und erwog, sie zu wecken, begnügte sich dann aber damit, sie beim Schlafen zu beobachten. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich vor das Bett. Zumindest das schien er im Leben hinbekommen zu haben. Seine Kinder.
    „Mikael.“ Eine Hand lag auf seiner Schulter und er sah sich um. „Wegen gestern, Eva …“ „…nein, ich muss mich entschuldigen“, unterbrach sie ihn, „ich hätte dich fragen sollen. Wenn du es nicht willst, sag ich den beiden ab. Wenn du dich nicht im Stande fühlst …“ „Du redest, als wäre ich schwer krank“, murmelte er leise und streckte vorsichtig die Hand aus um Viivi einige Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. „Es ist die Wahrheit, oder? Du fühlst dich doch derzeit nicht gut. Ich bekomme doch mit, wie du nachts Albträume hast.“ „Die hatte ich doch immer schon“, beschwichtigte er. „Aber nicht in diesem Ausmaß.“ Er nickte und stand schließlich auf, worauf Evas Hand von seiner Schulter glitt. Mit leisen Schritten verließ er das Zimmer und sie folge ihm. „Der Grund, warum ich sie nicht einladen möchte …“, er stockte. „Ja?“, bohrte seine Frau nach. „Knud. Er ist … Eva … er ist derjenige, der mich damals verprügelt hat, als ich 16 war. Er war es, der ein Mädchen vergewaltigen wollte.“ Ihr Mund öffnete sich, schloss sich dann jedoch sofort wieder. „Das ist der einzige Grund. Ich weiß, dass du in seiner Frau eine neue Freundin gefunden hast und ich freue mich wirklich für dich, aber ich kann das nicht. Ich kann ihn nicht in mein Haus einladen.“ Jetzt begann sie langsam zu nicken. „Natürlich“ antwortete sie schließlich tonlos. „Ich wusste ja nicht, dass Knud der gleiche Mann ist.“ Er lächelte und strich mit seiner Hand über seine Wange. „Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich gestern so überreagiert habe. Ich werde bald wieder in Ordnung sein. Bald bin ich wieder der Alte.“
    Ihr schien sein ernster Unterton nicht entgangen zu sein.
    „Wie meinst du das?“
    „Es ist nicht wichtig“, sagte er und gab ihr einen Kuss. „Danke, dass du hier bist, mich noch nicht verloren gegeben hast.“
    Er wollte ins Schlafzimmer gehen, doch Eva hielt ihn zurück. „Was hast du vor? Bitte sag mir, dass du keinen Alleingang planst. Bitte bring dich nicht wieder in Gefahr.“ Er sah über die Schulter. In Evas Augen spiegelte sich eine Mischung aus Angst und Panik wieder.
    „Kasper braucht meine Hilfe bei etwas, mehr nicht.“
    „Es hat mit dieser Galina zu tun, nicht? Ich habe doch gehört, wie du vor ein paar Tagen ihren Namen am Telefon erwähnt hast.“
    Nun drehte er sich um. Er wusste, dass er sie ohne Probleme belügen könnte. Sie würde nicht merken, wenn er behaupten würde, dass es sich um einen komplett anderen Fall handelte und dennoch brachte er es nicht über sich. Es hatten in den letzten Jahren so viele Lügen zwischen ihnen gestanden. Er hatte sie deshalb fast verloren. Nein, er würde sie verlieren, wenn er weiter log.
    „Ja. Es hat mit ihrem Mörder zu tun.“
    „Ist es gefährlich?“, fragte Eva. Sie trat näher an ihn heran und legte ihre Hand flach auf seine Brust. Sein Herz hämmerte aufgeregt dagegen.
    „Ja“, flüsterte er leise, „ja, es ist gefährlich.“
    „Bitte … bitte lass sie los. Mikael, ich will dich nicht ver …“
    „Du wirst mich nicht verlieren. Ich muss das machen. Ich muss das tun, damit ich endlich Ruhe finde.“ Er griff nach ihrer Hand, die noch immer auf seiner Brust lag, und drückte sie sanft. „Ich liebe dich“, sagte er und gab ihr einen Kuss. Ihre Lippen waren so weich, so schön, so zart. „Ich bin bald wieder für euch da.“

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